© Jan Bielecki

Die ansonsten eher einfach aufgebaute Würfelqualle Tripedalia cystophora hat vier Sinneszentren (Rhopalium) mit jeweils sechs Augen. Die Studie zeigt, dass hier assoziatives Lernen stattfindet.

Der Quallentrainer

Studie aus Kiel und Kopenhagen zeigt erstmals, dass bereits einfache Nervensysteme lernen können

Quallen können aus Erfahrungen lernen, ähnlich wie der Mensch oder andere komplexe Lebewesen – das hat jetzt ein Team von Biologinnen und Biologen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Universität Kopenhagen gezeigt. Sie trainierten karibische Würfelquallen (Tripedalia cystophora), Hindernisse zu erkennen und ihnen gezielt auszuweichen. Die Studie zeigt, dass selbst einfach entwickelte Nervensysteme zu einer fortgeschrittenen Form des Lernens fähig sind. Das könnte darauf hindeuten, dass die evolutionären Wurzeln von Lernen und Gedächtnis älter sind als bisher angenommen. Möglicherweise waren sie von Anfang an einer der wichtigsten evolutionären Vorteile von Lebewesen mit Nervensystemen. Die Studie erscheint am 22. September in der Fachzeitschrift Current Biology.

Sie ist nicht größer als ein Fingernagel, sehr einfach aufgebaut und besitzt nur wenige Nervenzellen. Und doch verfügt die Würfelqualle über ein komplexes Sehsystem mit 24 Augen. Damit navigiert sie durch das trübe Wasser der karibischen Mangrovensümpfe, jagt Wasserflöhe und weicht Unterwasserwurzeln aus. „Obwohl es so einfache Tiere sind, haben sie ein beeindruckendes räumliches Sehvermögen, das sie nutzen, um ihr Verhalten zu verändern“, beschreibt Dr. Jan Bielecki vom Physiologischen Institut der CAU den Reiz dieser Lebewesen, die er schon lange erforscht. Es fasziniere ihn, herauszufinden wie solche einfachen Nervensysteme zum Lernen fähig sind und was sich hierbei von der Natur auf technische Bereiche wie Robotik übertragen lasse.
 

Lernfähigkeit ist älter als bisher angenommen

Wie Bielecki und seine Kolleginnen und Kollegen von der Universität Kopenhagen jetzt erstmals nachgewiesen haben, können Würfelquallen sich die Fähigkeit, Hindernissen auszuweichen, durch assoziatives Lernen aneignen. Das heißt, ein Organismus ändert sein Verhalten oder seine Einstellung aufgrund einer gemachten Erfahrung. „Das ist eine höhere Form des Lernens, als man von so einem Lebewesen erwarten würde“, sagt Bielecki, der die Quallen in seinem Labor trainiert. Evolutionär gesehen gehören die Würfelquallen zu den ersten Tieren mit einem Nervensystem.

„Wenn bereits diese Tiere in der Lage sind zu lernen, könnte es sich um eine grundlegende Fähigkeit von Nervenzellen oder neuronalen Netzwerken handeln. Das weist darauf hin, dass sie seit dem Beginn der Evolution existiert und damit früher als bisher in der Forschung angenommen“, sagt Biologe Dr. Jan Bielecki.

Für seine Experimente simulierte das Forschungsteam den natürlichen Lebensraum der Qualle mit einem Wasserbecken und grauen und weißen Streifen an der Innenwand. Die grauen Streifen stellten die Mangrovenwurzeln dar, denen es auszuweichen galt, die weißen Streifen die Wasserumgebung. Über Farbkontraste nimmt die Würfelqualle räumliche Entfernungen wahr, daher variierten die Forschenden die Kontraste im Verlauf des Experiments.

Zu Beginn des Experiments stießen die Quallen noch häufig gegen die simulierten Wurzeln an der Beckenwand. Doch schon nach wenigen Minuten hatten sie ihren durchschnittlichen Abstand dazu bereits um etwa 50 Prozent vergrößert und prallten nur noch halb so oft dagegen. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Quallen durch die Kombination von visuellen und mechanischen Reizerfahrungen lernen können“, sagt Anders Garm, Professor für Meeresbiologie an der Universität Kopenhagen, Dänemark.   
 

Würfelqualle lernt überraschend schnell

„Wie schnell diese Quallen gelernt haben, hat uns wirklich überrascht“, sagt Bielecki.Das liege vor allem daran, dass die Forschenden mit einem natürlichen Verhalten der Tiere gearbeitet haben. Hindernissen auszuweichen, kennen die Quallen aus ihrem Alltag, es ist für sie ein „sinnvolles“ Verhalten. „Lernen bedeutet, etwas Neues mit etwas Bekanntem zu verknüpfen. Das macht Lernen zu einem sehr individuellen Prozess.“ In der Biologie spricht man auch von „SSDR“, Species-specific Defense Reaction, wenn es sich um ein sehr artspezifisches Verhalten handelt.

Um die zugrunde liegenden Prozesse des assoziativen Lernens bei der Würfelqualle besser zu verstehen, isolierte Bielecki anschließend die visuellen Sinneszentren der Tiere, die sogenannten Rhopalia. Jedes der vier Zentren enthält sechs Augen, aber nur 1.000 Nervenzellen. Außerdem werden hier elektrische Signale erzeugt, die die Bewegungen der Qualle steuern. Bielecki zeigte dem Rhopalium sich bewegende graue Balken, um zu simulieren, dass sich die Qualle einem Hindernis annähert. Doch erst als er dem Rhopalium schwache elektrische Stimuli zufügte – damit simulierte er einen Aufprall an der Wand – reagierte es und erzeugte Signale, die die Qualle zum Ausweichen bringt. Damit konnte Bielecki nicht nur das Verhalten der Quallen ändern, sondern auch erstmals den Ort ihrer Lernprozesse in ihren Rhopalia lokalisieren.
 

Evolutionäre Erkenntnisse auf Technik übertragen

„Wenn man komplexe Strukturen wie das Nervensystem verstehen will, hilft es, zunächst möglichst einfache Strukturen zu untersuchen“, sagt Bielecki. „So ist es oft leichter, Zusammenhänge zu verstehen und sie anschließend zu übertragen.“ Genau das will er im Sonderforschungsbereich 1461 „Neuroelektronik“ umsetzen, in den die Ergebnisse der Studie einfließen. Der interdisziplinäre Forschungsverbund an der CAU, in dem Bielecki Mitglied ist, untersucht, wie sich Prinzipien aus der biologischen Informationsverarbeitung auf technische Systeme übertragen lassen.

„Dass die Würfelqualle mit so wenigen Nervenzellen Muster erkennen kann, macht sie zu einem idealen Modellorganismus für unsere Forschung“, sagt SFB-Sprecher Professor Hermann Kohlstedt von der CAU. Ziel des Großforschungsprojekts ist es, Hardware wie elektronische Schaltkreise zu entwickeln, die beispielsweise zur Mustererkennung eingesetzt werden können. „Bisher läuft das über Computersoftware, die dabei aber viel Energie verbraucht. Doch aus der Natur und der Evolution wissen wir, dass es sehr viel energieeffizientere Wege gibt, Informationen zu verarbeiten.“

Experiment zum Lernverhalten der Würfelqualle:

© Jan Bielecki / Current Biology

Die Studie zeigt unter anderem, dass die Würfelqualle sowohl visuelle als auch mechanische Reize benötigt, um zu lernen. Die Grafik gibt einen schematischen Überblick über das dreistufige Experiment, bei dem es erst im dritten Fall zu einem wirklichen Lernprozess kommt.

Die Streifen an der Innenwand eines Wasserbeckens simulieren die Hindernisse im natürlichen Lebensraum der Qualle. Im ersten Experiment prallen die Quallen immer wieder gegen die Wand – sie ändern ihr Verhalten nicht. Durch den Aufprall erhalten sie zwar einen mechanischen Reiz, aber an die Beckenwand bietet keinen visuellen Kontrast.

Im zweiten Experiment ist durch einen starken Kontrast zwischen hellen Streifen (Wasser) und dunklen Streifen (Wurzeln) ein visueller Reiz vorhanden. Die Quallen bleiben die ganze Zeit in der Mitte des Beckens. So stoßen sie zwar nicht an den Rand (erhalten also keinen mechanischen Reiz), aber es findet auch kein Lernprozess statt.

Im dritten Experiment ist der Kontrast der Streifen etwas schwächer, aber noch immer ist ein visueller Reiz vorhanden. Anfangs stoßen die Quallen noch ab und zu gegen die Wand und erfahren so auch einen mechanischen Reiz. Bereits kurze Zeit später halten sie allerdings Abstand zur Wand – sie haben gelernt.

Ein Taucher unter Wasser mit einer Qualle
© Daniel Sacristán, TH Lübeck

In den karibischen Mangrovensümpfen haben Jan Bielecki und sein Team das Verhalten der Würfelqualle in ihrem natürlichen Lebensraum untersucht.

© Jan Bielecki

Die aktuelle Studie zeigt, dass die Würfelqualle Tripedalia cystophora trotz eines einfachen Nervensystems bereits Lernen kann.

© Julia Siekmann, Uni Kiel

Dr. Jan Bielecki trainiert die lernfähigen Würfelquallen, Hindernissen in ihrer Umgebung gezielt auszuweichen. Im Kieler Sonderforschungsbereich 1461 „Neuroelektronik“ erforscht der Biologe, wie sich Erkenntnisse zur biologischen Informationsverarbeitung auf technische Systeme übertragen lassen.

Originalpublikation:

Bielecki et al., Associative learning in the box jellyfish Tripedalia cystophora, Current Biology 33 (2023), 22.09.2023, DOI: 10.1016/j.cub.2023.08.056  https://doi.org/10.1016/j.cub.2023.08.056

Über den SFB 1461 "Neuroelektronik":

Seit Anfang 2021 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den SFB 1461 „Neuroelektronik: Biologisch inspirierte Informationsverarbeitung“ mit rund 11,5 Millionen Euro für zunächst vier Jahre. Hier wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Neurowissenschaften, Biologie, Psychologie, Physik, Elektrotechnik, Materialwissenschaften, Netzwerkwissenschaften und nichtlinearer Dynamik neue Hardware für die Informationsverarbeitung entwickeln. Ziel ist, Erkenntnisse über die Informationswege in Nervensystemen auf die technische Informationsverarbeitung zu übertragen, um zum Beispiel die Muster- und Spracherkennung oder die Energieeffizienz bestehender Systeme zu verbessern. Partnerinstitutionen neben der CAU als Sprecherhochschule sind: Ruhr-Universität Bochum, Technische Universität Ilmenau, Leibniz-Institut für innovative Mikroelektronik Frankfurt/Oder, Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik Kiel, Universitätsklinikum

Weitere Informationen:

Sonderforschungsbereich 1461 „Neuroelektronik“:www.crc1461-neurotronics.de/
Forschungsschwerpunkt KiNSIS (Kiel Nano, Surface and Interface Science) der Universität Kiel: www.kinsis.uni-kiel.de

Bild- und Videomaterial steht zum Download bereit:

Wissenschaftlicher Kontakt:

Dr. Jan Bielecki
Sonderforschungsbereich 1461 „Neuroelektronik“
Physiologisches Institut
Medizinische Fakultät, CAU
Telefon: +49 431 880-3204/5481
E-Mail:  j.bielecki@physiologie.uni-kiel.de

Pressekontakt:
Julia Siekmann
Referentin für Wissenschaftskommunikation, Forschungsschwerpunkt Kiel Nano Surface and Interface Sciences (KiNSIS)