Christentum und Fürsorge

Menschen sind immer wieder für andere da. Aber warum? Mit diesem Thema beschäftigt sich Professor Andreas Müller. Er forscht und lehrt an der Theologischen Fakultät Kirchen- und Religionsgeschichte des 1. Jahrtausends.

Mann vor einem modernen Altar
© pur.pur

Andreas Müller forscht zum Thema »Nächstenliebe«, das sich auch an einem Relief der Kieler Martinskirche zeigt, auf dem der heilige Martin seinen Mantel für einen Bettler zerteilt.

Seit etwa 15 Jahren befasst sich Professor Andreas Müller mit der Entwicklung der Philanthropie, also der Menschen- oder Nächstenliebe. Er betrachtet dafür den europäisch-mediterranen Raum zwischen 100 und 600 nach Christus und leuchtet das Thema in viele verschiedene Richtungen aus. Als Quellen zieht der Kirchenhistoriker unter anderem philosophische und biblische Texte, Schriften, die den Glauben verteidigen, Kirchenordnungen, Predigten und Briefe heran – hauptsächlich im griechischen und lateinischen Originaltext.

Ein wichtiges Ergebnis seiner Forschungen: Es gab vor und neben dem Christentum verschiedene Formen von Philanthropie. Das Christentum knüpfte an sie an und veränderte dabei ihren Charakter. Als Beispiel nennt Professor Müller die Entwicklung des Krankenhauses. Im Römischen Reich gab es Militärlazarette und Krankenstationen in großen privaten Haushalten. »Damit wollte man die militärischen Kräfte und Arbeitskräfte wiederherstellen«, erläutert Müller. »Alle, die nicht damit in Zusammenhang standen, fielen durchs Netz.«

Krankenpflege als Gottesdienst

Das Christentum habe den Kreis auf alle Menschen ausgeweitet. So seien unter anderem Menschen mit Behinderungen oder Todkranke eingeschlossen worden. »Diese Idee gab es in der Antike so bisher nicht«, betont Müller. Die Begründung liegt im christlichen Menschenbild: In den Kranken begegne man Christus und damit Gott selbst, heißt es in biblischen Texten. Der Kirchenhistoriker verweist auf das Krankenhaus in großem Stil, das der Bischof Basilius in den 70er Jahren des vierten Jahrhunderts in Kleinasien ins Leben gerufen hatte. »Krankendienst war Gottesdienst«, bringt der Theologe die damalige Motivation auf den Punkt: »Dies Konzept hat die Medizin und die heutigen Krankenhäuser stark mitgeprägt.« Im Zuge der Säkularisierung sei das christliche Menschenbild in die Vorstellung einer allgemeinen Menschenwürde übergegangen.

Nächstenliebe spielte auch in Klöstern eine große Rolle. Hier wurden nicht nur Kranke behandelt, sondern auch Fremde aufgenommen und Arme mit Lebensmitteln versorgt. Auf materiellen Besitz wurde vielfach verzichtet. Im nichtchristlichen Bereich der Spätantike habe es ebenfalls Strömungen gegeben, die das Armutsideal hochhielten, führt Professor Müller aus. »Es ging darum, dass Armut eine innere Freiheit nach sich zieht«, erläutert der Kirchenhistoriker. Bei christlichen Armutstendenzen sei es um eine innere Freiheit zugunsten der Beziehung zu Gott gegangen und zudem um den Zweck, die eingesparten Lebensmittel Bedürftigen zukommen zu lassen.

Geben und Nehmen im Austauschprinzip

Andreas Müller weist noch auf einen anderen Aspekt der Philanthropie in der Spätantike hin: »Es lag eine Art Austauschsystem vor, nach dem Prinzip: Wer sich als wohltätig erweist, erlangt Anerkennung oder andere Vorteile.« Ein solches Konzept wurde nach Einschätzung des Theologen im Christentum transzendiert, das heißt, auf Gott und die Ewigkeit bezogen. Aus der Zuwendung zu Bedürftigen folgte die Hoffnung auf eine Belohnung im Jenseits. »Ein Leistungsdenken ist hier nicht wegzudiskutieren«, urteilt Professor Müller. Doch es gebe noch eine andere christliche Motivation für Nächstenliebe, die heute besser zu vermitteln sei: »Aus Dankbarkeit für die Liebe Gottes wird Liebe an andere weitergegeben.« Der Kirchenhistoriker bestreitet nicht, dass sich auch in anderen Kulturkreisen, die nicht vom Christentum geprägt worden sind, tragende Konzepte der Philanthropie entwickelt haben. Doch er konzentriert sich in seiner Forschung auf den europäisch-mediterranen Raum.

Professor Müller berichtet von einer sehr positiven Resonanz, die er auf einen Vortrag während eines Ärztekongresses erhalten hat. »Teilnehmende haben mir die Rückmeldung gegeben, dass sie es sehr gut fanden, sich einmal mit dem Thema zu befassen, warum Menschen anderen Gutes tun. Diese Frage würde kaum gestellt.« Der Kirchenhistoriker ist sicher, dass das Bild, das Menschen von sich haben, Auswirkungen auf ihr Handeln hat. »Daher ist es wichtig, dass wir uns damit befassen«, lautet seine Einschätzung.

Autorin: Annette Göder

Professor Andreas Müller lehrt und forscht als ordentlicher Professor für Kirchen- und Religionsgeschichte des 1. Jahrtausends an der CAU. Er ist seit 2006 Mitglied der Wissenschaftlichen Leitung des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte in Bethel und seit 2016 Vorsitzender der Sektion Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie.

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