Ethik und Statistik

Inzidenz, R-Wert, Wirksamkeitsstudien: Seit Corona werfen die Deutschen mit Fachbegriffen aus der Medizinstatistik nur so um sich. Und doch wird diese Disziplin oftmals missverstanden.

Grafisches Schema
Grafik: pur.pur

»Viele Leute glauben, wir beschäftigen uns unentwegt mit Tabellen und Grafiken«, sagt Professor Michael Krawczak, Direktor des Instituts für Medizinische Informatik und Statistik. Im Kern ist die Medizinstatistik nach seinen Worten aber »eine mathematische Disziplin, bei der es darum geht, aus Daten solide Schlussfolgerungen zu ziehen«. Und so ist es kein Wunder, dass Krawczak ebenso wie seine Institutskollegin Professorin Astrid Dempfle ursprünglich Mathematik studiert hat.

»Wirkt das überhaupt?« Das ist die wohl wichtigste Frage, die sich die Medizinstatistik stellt. Denn egal ob in der Onkologie, der Kardiologie, der Psychologie oder anderen medizinischen Fachgebieten, immer wieder gibt es neue Therapien, deren Wirkungen und Nebenwirkungen nachgewiesen werden müssen.

»Randomisierte Doppelblind-Studien sind dazu unser wichtigstes Werkzeug«, erläutert Professorin Dempfle. Gemein ist diesen Studien im Grundsatz immer, dass ein Teil der Behandelten die zu prüfende neue Therapie erhält, der andere Teil hingegen die herkömmliche oder ein Placebo. Die Verteilung auf die zwei Gruppen ist randomisiert, also dem Zufall unterworfen. Der Zusatz »doppelblind« bedeutet, dass weder die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer noch die Ärztinnen und Ärzte wissen, wer das neue Medikament und wer die Vergleichssubstanz erhält. So soll vermieden werden, dass jemand im Glauben an die Vorzüge eines neuartigen Medikaments eine gesundheitliche Verbesserung zu spüren glaubt.

Wie genau eine Studie aufgebaut wird, hängt indessen von der jeweiligen wissenschaftlichen Frage ab. »Das beginnt schon mit der Zahl der einbezogenen Personen, die 200 bis mehrere Tausend oder Zehntausend umfassen kann«, erklärt Professor Krawczak und nennt eine Faustregel: »Wenn der Unterschied zur Standardbehandlung oder zum Placebo groß ist, genügt eine kleine Gruppe, je geringer der Unterschied ist, desto größer muss die Zahl der Behandelten sein.«

Wie wichtig dabei eine sorgsame Planung ist, zeigt sich an dem vermeintlichen Corona-Mittel Hydroxychloroquin. Aus ersten Daten konnte man ablesen, dass es einigen Betroffenen damit besser zu gehen schien, als zu erwarten gewesen wäre. Solide Studien in größerem Umfang zeigten dann aber, dass das Präparat wirkungslos ist. »Mathematisch ausgedrückt, geht es immer darum, ob wir es mit Zufälligkeiten zu tun haben oder mit systematischen Effekten«, beschreibt Krawczak das Prinzip.

Dabei werden hohe ethische Maßstäbe angelegt. Ein absolutes Muss ist laut Krawczak und Dempfle die umfassende Information der Teilnehmenden, die im Lauf der Studie jederzeit das Recht haben, ihre Mitwirkung zu beenden. Nicht gerüttelt wird zudem an der Regel, dass Placebos nur dann verabreicht werden, wenn es völlig offen ist, ob ein neuer Wirkstoff hilft. Niemand erhält zu Forschungszwecken bewusst eine schlechtere Behandlung. Auch wird schon ganz am Anfang unter Beteiligung der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der CAU festgelegt, unter welchen Umständen eine Studie vorzeitig abgebrochen werden muss und welche Erfolgskriterien angelegt werden sollen.

Selbst wenn die Daten ethisch und fachlich noch so korrekt gewonnen wurden, kann das aber zuweilen nicht verhindern, dass bei ihrer Interpretation Fehler passieren. »Wenn bis zu 50 Prozent der künstlich beatmeten Coronakranken sterben, könnte man daraus schließen, dass die Beatmung hochgradig gefährlich sei«, nennt Astrid Dempfle ein Beispiel. »Der Punkt ist aber, dass ohne Beatmung wahrscheinlich 95 Prozent sterben würden.«

Solche Fälle thematisiert die Medizinstatistik auch in der Lehre, die dem medizinischen Nachwuchs laut Professor Krawczak »ein wissenschaftliches Grundverständnis« nahebringen soll. Denn klar ist, dass das Thema Statistik auch im späteren Beruf eine Rolle spielen wird. Am UKSH laufen oftmals mehrere Dutzend Wirksamkeitsstudien parallel, teils in eigener Regie, teils auch im Auftrag der pharmazeutischen Industrie. Und beides, so betonen Krawczak und Dempfle, sei nicht verwerflich, sondern geradezu geboten, um therapeutische Fortschritte bei vielen immer noch tödlich verlaufenden Krankheiten zu erreichen.

Autor: Martin Geist

Es begann mit der Lochkarte

Das heutige Institut für Medizinische Informatik und Statistik (IMIS) wurde 1964 als universitäres Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation am Universitätsklinikum Kiel gegründet. Es widmete sich anfangs noch im Zeichen der Lochkarte vor allem der Datenverarbeitung zur Erstellung von Statistiken. Neben der Medizinstatistik, für die Professor Michael Krawczak und seine Kollegin Professorin Astrid Dempfle stehen, spielt die zwischenzeitlich in den Hintergrund gerückte Medizinische Informatik wieder eine zentrale Rolle im IMIS. Das Fachgebiet wird in Kiel durch die Professoren Björn Bergh und Björn Schreiweis vertreten und befasst sich mit der Bereitstellung von Daten und Algorithmen in der medizinischen Versorgung und Forschung. Für den medizinischen Fortschritt ist das Zusammenwirken von medizinischer Informatik und Statistik mittlerweile unerlässlich geworden. (mag)

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