Der Mensch in der Welt

Der Deutsch-Amerikaner Franz Boas zählt zu den wichtigsten Anthropologen der Welt. Welche Bedeutung sein Denken für die heutige Wissenschaft vom Menschen und gleichzeitig für die Archäologie hat, und welche Rolle die Kieler Universität dabei spielt, wird im Exzellenzcluster ROOTS erforscht.

Portraitbild von Franz Boas
© American ­Philosophical Society Library, Franz Boas Papers Mss.B.B61, graphics: 5374

Franz Boas als Student in Deutschland (circa 1878).

Der fortschrittsorientierte Westen als Maß aller Dinge: Mit dieser Schablone im Kopf wurden auch in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fremde Kulturen studiert. Wer dem Vergleich nicht standhielt, musste, dem damaligen westlichen Verständnis folgend, zwangsläufig etliche Evolutionsstufen niedriger angesiedelt sein. »Ein Vorurteil war, dass Jäger- und Sammler-Gruppen ein karges Leben führten, in dem der Überlebenskampf in der Natur alltäglich war. Franz Boas hatte aber selbst Begegnungen mit Jäger- und Sammler-Gruppen, die dem Bild widersprachen. Diese Erlebnisse ließen ihn den sogenannten Evolutionismus in Frage stellen«, erklärt Dr. Henny Piezonka. »Für ihn standen alle Kulturen gleichberechtigt nebeneinander, jede mit eigener Geschichte und Entwicklung«, erklärt die Juniorprofessorin für Anthropologische Archäologie am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Kieler Universität. »Mit seiner offenen, vorurteilsarmen Sicht- und Denkweise hat er im 19. Jahrhundert in den USA den sogenannten Kulturrelativismus begründet – und der macht ihn zu einem der wichtigsten Anthropologen weltweit.«

Piezonka beschäftigt sich im Rahmen des Exzellenzclusters ROOTS mit dem 1858 in Minden geborenen und 1886 in die USA ausgewanderten Wissenschaftler, seiner Bedeutung für die moderne Anthropologie und seinem Leben. Einen kleinen Teil davon hat Boas übrigens an der Kieler Förde verbracht. Nach dem Studium von Mathematik, Physik und Geografie in Heidelberg und Bonn wechselte er 1879 an die Christian-Albrechts-Universität und wurde hier zwei Jahre später zum Thema »Beiträge zur Erkenntnis der Farbe des Wassers« promoviert. Damit habe Boas den Grundstein für seine spätere Karriere gelegt, findet Piezonka. »Ihn interessierte, wie unterschiedlich Menschen Farben wahrnehmen.« Das führte ihn nach dem Studium vom Wasser zum Schnee und zu einer Arktisexpedition, wo er seine ethnologisch-anthropologischen Ansätze bei den Inuit verfolgte.

»Was ihn so besonders macht, ist, dass er Kulturen von verschiedensten wissenschaftlichen Seiten aus betrachtet«, sagt Piezonka. »Er war sich sicher, dass man nur so ein wirklich umfassendes Verständnis des Menschen und seiner Kultur, von der Vergangenheit bis in die Gegenwart, erzielen kann.« Er stellte die Anthropologie in den USA auf professionelle Beine: Die vier Felder Archäologie, Sprachwissenschaft, physische Anthropologie und Ethnologie (heute: Sozial- und Kulturanthropologie) fasste er im Fach Anthropologie zusammen. »Boas setzte damit eine ältere deutsche Tradition fort und übertrug diese nach Amerika, wo diese Wissenschaften bis dahin eher getrennt beziehungsweise noch gar nicht ausgeformt waren«, so Piezonka. »Er erweiterte sie dort und institutionalisierte sie – während im deutschsprachigen Raum die Fächer in der Folgezeit auseinanderdrifteten und bis heute auf ganz unterschiedliche Fachbereiche und Fakultäten verteilt sind«, erklärt die Professorin. »Dieses interdisziplinäre Arbeiten nach seinem Vier-Felder-Ansatz war für seine Zeit revolutionär. Boas hat damit eine Denkweise geschaffen, mit der die amerikanische Anthropologie noch heute arbeitet.«

Seine Ideen sorgten zunächst in den USA für ein Umdenken. Aber auch an der Kieler Universität setzte Boas mit seinem Vortrag »Rasse und Kultur« 1931 am Vorabend der Naziherrschaft ein deutliches Zeichen gegen Rassismus. Inzwischen gilt der 1942 gestorbene Wissenschaftler international als einer der bekanntesten und wichtigsten Vertreter seiner Zunft. »Genauso interdisziplinär wie Boas arbeiten wir an der Universität, besonders im Exzellenzcluster ROOTS.« Die Erkenntnis dabei: Der Blick über den Tellerrand auf andere Kulturen und ihr Handeln in Gegenwart und Vergangenheit kann einzelnen Menschen und ganzen Gesellschaften in manchen Situationen helfen Sichtweisen zu verändern, eingeschränkte Erfahrungshorizonte und Muster zu durchbrechen und vielleicht Alternativen für eigene Probleme zu finden. »Das ist in der heutigen Zeit für viele Themenbereiche wichtig, egal ob es um den Umgang mit dem Klimawandel, um Migration oder um anderes geht. Die anthropologische Archäologie, wie wir sie Boas zu verdanken haben, gewinnt in gesellschaftlichen und politischen Diskursen daher zunehmend an Relevanz.«

Im Rahmen der Humanities-Plattform des Exzellenzclusters ROOTS will die Professorin gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen die Verbindung zwischen Boas und der Landeshauptstadt herausarbeiten. Der erste Schritt war eine internationale Boas-Fachtagung, die jüngst an der Kieler Universität stattfand. Ein weiterer Schritt ist die Wiedergeburt der Ethnographisch-Archäologischen Zeitschrift. Nun in Kiel verortet, soll sich in einer Printausgabe und online die Themenvielfalt in der Anthropologie widerspiegeln. »Die Artikel sollen uns aus vielen verschiedenen Blickwinkeln die Welt erklären – ganz im Sinne des geistigen Erfinders.« Die erste Ausgabe erscheint 2022.

Autorin: Jennifer Ruske

unizeit-Suche:

In den unizeit-Ausgaben 27-93 suchen