
Graffiti, Gartenzwerge und Gefängnisessen
Archäologische Fundstücke müssen nicht aus der Steinzeit stammen, um von wissenschaftlichem Interesse zu sein. Auch die Gegenwart und jüngere Vergangenheit hat in dieser Hinsicht Spannendes aus der Landeshauptstadt Kiel zu bieten, wie Studierende der Fachrichtung Neuzeitarchäologie in ihren Abschlussarbeiten beweisen.

In der Küche des MUG steht noch der Küchenherd der Serie Baldur der Firma Holler'schen Carlshütte.
Graffiti auf Häuserwänden, »zu verschenken«-Kisten auf den Straßen, Reste aus aufgegebenen Kleingartenanlagen: »Was manche Menschen als Sachbeschädigung oder Müll betrachten, sind für uns in der Archäologie der Moderne spannende Objekte«, erklärt Neuzeitarchäologe Ulrich Müller, Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Kieler Universität. »Denn sie bieten Einblicke in die Lebenswelt der Menschen in der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit und sind damit wichtig für das Verständnis der Geschichte einer Stadt.« Das zeigte das jüngste Projekt des Fachbereichs: Studierende der CAU nahmen darin die Landeshauptstadt Kiel in den Fokus und betrachteten sie im Spiegel archäologischer Quellen.
»Neben Themen wie Graffiti und Gartenzwerge war es vor allem die Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts, die bei den Studierenden auf besonderes Interesse stieß«, erklärt der Professor weiter. Sie widmeten sich in ihren Arbeiten den Wracks in der Kieler Förde, dem U-Boot 995 als lebendigem Museum, den Rüstungsbetrieben in Kiel, der Festung Friedrichsort und anderem.
»Bei den Recherchen wurde schnell deutlich, welchen Einfluss die Marine und die Werften in der Vergangenheit und noch bis heute für das Stadtbild haben«, erklärt auch Fritz Jürgens, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut. Zusammen mit Professor Müller, der Stadt Kiel und der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte hat er eine Vortragsveranstaltung organisiert. Aufgrund der Corona-Pandemie wird die Veranstaltung im Kieler Rathaus allerdings erst im Frühsommer und nicht wie ursprünglich geplant im Februar stattfinden. Dabei werden die Studierenden ihre Rechercheergebnisse vortragen.
Mit dabei ist auch Leonie Sticke. Der Studentin hat es ein Herd besonders angetan. Die holz- und kohlebefeuerte »Hexe« bildet den Mittelpunkt der früheren Küche des Marineuntersuchungsgefängnisses MUG in der Wik. Für ihre Bachelorarbeit hat Sticke den noch gut erhaltenen Raum im Keller des MUG erkundet, Kommilitonin Laura Rose ist den Graffitis in den ehemaligen Zellen auf den Grund gegangen. »Das MUG gibt es seit dem Jahr 1904. Aus der Arrestanstalt der Kaiserlichen Marine wurde im Nationalsozialismus ein Untersuchungsgefängnis und Aufenthaltsort für die zu Tode verurteilten Soldaten und für Soldaten, die auf ihren Prozess warteten«, erklärt sie. Im Laufe der Nutzungszeit saß eine Vielzahl an Inhaftierten in diesem Gefängnis. Wie gut, oder genauer wie schlecht die Menschen versorgt wurden, lässt sich anhand der Dimensionen der Küche nur erahnen. Der noch gut erhaltene Raum mit Herd, Wasserbecken, Haken für Kochlöffel und den Fliesen von Villeroy & Boch misst gerade mal 29 Quadratmeter.
Der knapp 1,70 Meter lange und 75 Zentimeter breite Herd in der Mitte des Raums ist mit seinen drei Kochfeldern gerade geeignet, einen Haushalt mit sechs bis zehn Personen zu bekochen. Das haben Recherchen beim Hersteller – der Firma Holler’sche Carlshütte bei Rendsburg – ergeben. »Für die deutlich größere Personenzahl in einem Gefängnis war dieser Herd nicht geeignet. Das spricht dafür, dass die Essensversorgung der Gefangenen eher schlecht und beileibe nicht ausreichend gewesen sein muss.« Überdies waren Nahrungsmittel kriegsbedingt knapp bemessen, die Rationen für Gefangene lagen im April 1945 sogar unter dem Erhaltungsminimum, hat sie recherchiert. »Die Küche und der Herd sind Zeitzeugnisse, die die Geschichte des Marineuntersuchungsgefängnisses und seiner Insassen aus einer besonderen Perspektive erzählen. Die Vergangenheit und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs werden durch diese Alltagsgegenstände weitaus lebendiger als nur durch Bücher«, sagt sie. Ulrich Müller: »Genau aus diesem Grund beschäftigen wir uns in der Neuzeitarchäologie mit der Alltagskultur, dokumentieren und analysieren Objekte, die andere vielleicht wegschmeißen würden. Denn all das ist Geschichte.«
Autorin: Jennifer Ruske
»Mehr als nur Sailing City! Kiel im Spiegel archäologischer Quellen.«
Vortragsveranstaltung im Kieler Rathaus, Fleethörn 9. Eintritt frei. Termin steht noch nicht fest.
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