Frauen sind anders krank

Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheitsversorgung sind lange bekannt, werden aber weder in der Forschung noch in der klinischen Praxis ausreichend berücksichtigt. Eine Ringvorlesung an der Kieler Uni klärt auf.

Schematische Darstellung von Schmerzregionen im menschlichen Körper
Grafik: pur.pur

Mögliche Schmerzregionen beim Herzinfarkt. Die Anzeichen für einen Herzinfarkt sind nicht bei allen Menschen gleich. Insbesondere bei Frauen kann er auch ohne das typische Engegefühl in der Brust auftreten. Frauen haben oft unspezifische Symptome wie Übelkeit mit Erbrechen, Rücken- oder Kieferschmerzen und Atemnot.

Schmerzen in der Brust, die in den linken Arm ausstrahlen – bei diesen Symptomen ist sofort klar, das könnte ein Herzinfarkt sein. Das gilt aber insbesondere für Männer. Bei Frauen schmerzt nicht immer die Brust, oft tun ihnen stattdessen der Kiefer, die Schultern oder der Rücken weh, ihnen wird übel. Wenn eine Frau mit diesen Beschwerden ihren Arzt oder ihre Ärztin aufsucht, kann es passieren, dass sie mit Schmerzmitteln nach Hause geschickt wird, anstatt mit Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus.

Die Erfahrung, dass ihre Beschwerden als psychosomatisch abgetan werden und nicht nach einer körperlichen Ursache gesucht wird, machen viele Frauen. »Das haben wir auch im Zusammenhang mit Covid-19 und speziell mit Long-Covid gesehen«, sagt Professorin Sabine Oertelt-Prigione von der Universität Bielefeld und der Radboud-Universität Nijmegen, Niederlande.

Es gibt Daten, die belegen, dass Frauen weniger ernst genommen werden mit ihren Symptomen.

Sabine Oertelt-Prigione

Die Internistin hat den einzigen Lehrstuhl für geschlechtersensible Medizin in Deutschland inne. Das Fach ist ansonsten nur noch an der Charité – Universitätsmedizin mit einer Professur für geschlechtersensible Präventionsforschung vertreten. Das dortige Institut für Geschlechterforschung in der Medizin leitet Professorin Gertraud Stadler.

In ihrem Einführungsvortrag bei der Ringvorlesung »Geschlechtersensible Medizin« an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) machte sie deutlich, dass es eine Vielzahl von Unterschieden zwischen Frauen und Männern gibt, biologische Unterschiede genauso wie Unterschiede im Gesundheits- und Kommunikationsverhalten. »Sie betreffen alle Prozesse unseres medizinischen Handelns, von der Grundlagenforschung über klinische Forschung, medizinische Versorgung bis hin zur öffentlichen Gesundheit und zu Präventionsprogrammen. Bei all diesen Prozessen müssen wir das Geschlecht als Kategorie mitdenken«, betont Oertelt-Prigione.

Biologische Unterschiede

Da viele körperliche Abläufe von Genen und Hormonen beeinflusst sind, ist es nur logisch, dass sie sich zwischen biologischen Männern und Frauen unterscheiden. Einige Beispiele: Die Bewegung des Magens und Darms ist bei Frauen etwas langsamer als bei Männern, es dauert also länger, bis die Nahrung verdaut wird oder Arzneimittel in die Blutbahn gelangen. Die Enzyme der Leber, die Arzneistoffe verarbeiten, unterscheiden sich ebenfalls zwischen männlichen und weiblichen Personen (oder Versuchstieren). Das wirkt sich unmittelbar darauf aus, wie lange und wie viel aktiver Wirkstoff eines Medikaments im Blut zu finden ist. Gleichzeitig verteilt sich durch den meist höheren Körperfettanteil von Frauen und ihre oft geringere Körpergröße der Wirkstoff im Gewebe anders als bei Männern. Genetische Unterschiede zwischen den Geschlechtern bewirken, dass zum Beispiel Autoimmunerkrankungen bei Frauen deutlich häufiger sind, der plötzliche Herztod dagegen eher Männer betrifft.

All diese Unterschiede werden in medizinischen Studien jedoch meist nicht ausreichend berücksichtigt. Dabei ist seit etwa 30 Jahren bekannt, wie gravierend das sein kann. Die US-amerikanische Herzforscherin Marianne J. Legato beschrieb bereits 1992 in dem Buch »The Female Heart« die Besonderheiten von Herzerkrankungen bei Frauen und räumte mit dem Mythos auf, dass nur Männer an Herzinfarkten erkranken und sterben. »Das war so ein Aha-Moment, der alle aufgeweckt hat«, berichtet die Professorin für geschlechtersensible Medizin. Seitdem habe sich die Versorgung deutlich gebessert. Unterschiede gebe es aber immer noch, zum Beispiel nehmen weniger Frauen als Männer an einer Reha-Maßnahme nach einem Herzinfarkt teil. So wurden 2019 in Deutschland 437.108 Männer und 202.122 Frauen wegen einer koronaren (ischämischen) Herzkrankheit in einem Krankenhaus behandelt, also etwa doppelt so viele Männer wie Frauen. In die stationäre Rehabilitation kamen im selben Jahr aber etwa dreimal so viele Männer wie Frauen (66.435 zu 22.302) mit dieser Diagnose.

Toxizität und Effektivität von Krebstherapien

Die Notwendigkeit, auf geschlechterspezifische Besonderheiten einzugehen, wird auch in der Krebsmedizin zunehmend wahrgenommen. Relevant sind insbesondere Unterschiede bei Nebenwirkungen von Krebsmedikamenten. »Wir haben einige Daten dazu, dass Frauen tendenziell mehr Nebenwirkungen haben. Insbesondere leiden sie häufiger unter Schleimhautentzündungen, Übelkeit und Erbrechen. Außerdem haben wir Hinweise darauf, dass die Effekte auf die Blutbildung bei Frauen ausgeprägter sind«, berichtet Professorin Anne Letsch, die über diese Gender-Aspekte der Krebstherapie in der Ringvorlesung referiert hat. Letsch ist seit 2020 Professorin für Internistische Onkologie an der Medizinischen Fakultät der CAU. Sie leitet das onkologische Zentrum am UKSH, Campus Kiel, und engagiert sich in der »Taskforce Gender Medicine« der Europäischen Krebsgesellschaft (ESMO).

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Krebstherapien wurden für verschiedene Tumorerkrankungen, zum Beispiel Darmkrebs, Lungenkrebs oder Lymphdrüsenkrebs gefunden. »Wenn Nebenwirkungen verstärkt auftreten, kann häufig die Therapie nicht in der Form erfolgen, wie es eigentlich erforderlich wäre. Und sie ist dann zum Teil nicht mehr effektiv genug«, betont Letsch. »Für die klinische Versorgung brauchen wir möglichst schnell eine bessere Datenlage, die es uns erlaubt, geschlechtsspezifische Behandlungsstrategien zu entwickeln«, so Letsch. Warum einige Krebsmedikamente von Frauen weniger gut toleriert werden, ist bisher noch nicht eingehend erforscht. »Das liegt zum Teil daran, dass Frauen in klinischen Studien der Krebsforschung unterrepräsentiert sind. Zudem werden die Ergebnisse zu Wirkung und Nebenwirkungen nicht generell nach Geschlechtern getrennt analysiert.« Aber selbst wenn Daten und Empfehlungen für eine geschlechterangepasste Dosierung vorliegen, fehlt es oft noch an der Umsetzung in der Praxis. Letsch: »Es gibt vielfach kein Bewusstsein für dieses Thema bei den Behandelnden. Wir müssen daher geschlechtersensible Medizin in die Ausbildung integrieren und früh dafür sensibilisieren.«

Autorin: Kerstin Nees

Digitale Ringvorlesung »Geschlechtersensible Medizin«

donnerstags 18 Uhr. Nächste Termine: 27. Januar, 10. und 24. Februar 2022.

Zur Terminübersicht

24. Januar 2022, Anne Letsch: Gendermedizin – Sind Frauen und Männer anders krebskrank? Gesundheitsforum im Citti Park Kiel
www.uksh.de/gesundheitsforum

Das muss sich laut Sabine Oertelt-Prigione ändern:

Forschung
Es reicht nicht, dass Frauen in klinischen Studien vertreten sind, die Ergebnisse müssen auch getrennt nach Geschlechtern analysiert werden. Die europäische Arzneimittelbehörde überarbeitet aktuell ihre Regeln hierfür. Eine entsprechende Standardisierung könnten auch medizinische Fachzeitschriften fordern. »Um Empfehlungen für die klinische Praxis aussprechen zu können, brauchen wir eine transparente Darstellung der Ergebnisse. Wenn es keine Unterschiede gibt, dann wollen wir das auch wissen«, erklärt Professorin Sabine Oertelt-Prigione.

Medizinische Versorgung
Um eine geschlechtersensible Versorgung in die Praxis zu überführen, fehlt es in vielen Bereichen noch an belastbaren Daten. Die aktuelle Datenlage ist genau zu prüfen, um daraus evidenzbasierte Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Lehre
Dass das Geschlecht eine Rolle in der Medizin spielt, wird immer mehr anerkannt und ist bereits im neuen nationale Lernzielkatalog für das Medizinstudium berücksichtigt.

Vernetzung
Die Verankerung der geschlechtersensiblen Medizin in der Praxis ist ein Querschnittsthema, das alle angeht. »Um die Institutionalisierung voranzutreiben, sollten sich die Kolleginnen und Kollegen vernetzen, die sich mit geschlechtersensibler Medizin befassen«, so Oertelt-Prigione.

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