
»Wir brauchen mehr Regulierung!«
Als Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin unterstützt Professorin Anja Bosy-Westphal das Bündnis #ErnährungswendeAnpacken. Worum es dabei geht und woran sie selbst forscht, erzählt sie im Interview mit der unizeit.

unizeit: Wenn man den Ernährungsreport 2021* liest, könnte man meinen, es braucht gar keine Veränderung. Demnach würden 91 Prozent der Deutschen gesund essen, und 76 Prozent essen täglich oder mehrmals täglich Gemüse und Obst. Ist also alles gut?
Anja Bosy-Westphal: Nein, leider nicht. Wenn ich mir angucke, welche Lebensmittel im Supermarkt stehen und über das Band rollen, und wenn ich mir den Ernährungszustand der Bevölkerung anschaue, sehe ich große Missstände. Die Aussagekraft einer solchen qualitativen Erhebung ist eingeschränkt. Wir müssen natürlich genauer hinschauen. Unsere Lebensmittel und unsere Ernährung haben sich über die Jahre sehr verändert. Und wir haben ein eklatantes Ernährungsproblem, vor allem im Hinblick auf das Übergewicht und damit assoziierte Erkrankungen. Wir sind in Deutschland eine übergewichtige Gesellschaft, und das liegt maßgeblich an unserer Ernährung. Da kann ich keine Entwarnung geben. Natürlich ist ein großes Ziel von allen, sich gesund zu ernähren. Aber das ist gar nicht so einfach für Verbraucherinnen und Verbraucher. Man ist dem Angebot ein bisschen ausgeliefert. Ich beschäftige mich zum Beispiel in der Forschung mit hochverarbeiteten Lebensmitteln wie Fertiggerichten, Puddings oder Back- und Süßwaren, deren Verzehr mit Übergewicht und auch mit Sterblichkeit in Beziehung steht. Wir beobachten, dass die Ernährung zunehmend in diese Richtung driftet und dass sie weltweit immer gleicher wird.
Sie haben sich mit ihrer Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, dem Bündnis »#ErnährungswendeAnpacken!« angeschlossen. Was sind die Forderungen?
Die beteiligten 15 Verbände und Fachgesellschaften aus den Bereichen Gesundheit, Soziales, Ernährung und Umwelt fordern politische Maßnahmen, die eine grundlegende Veränderung der Ernährungsweise im Sinne der »Planetary Health Diet« ermöglichen, also einer Ernährung, die der Gesundheit des Menschen dient und gleichzeitig die Umwelt schützt.
Der Maßnahmenkatalog umfasst zehn Punkte. Einer betrifft zum Beispiel die Gemeinschaftsverpflegung. Da geht es etwa darum, Standards zu entwickeln und umzusetzen. Kitas, Schulen, Betriebe, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, für eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung zu sorgen. Das ist eines der wichtigen Ziele. Ein anderes betrifft die Regulierung von Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder richtet.
Wir brauchen mehr Regulierung. Wir können nicht alle Verantwortung der einzelnen Verbraucherin oder dem einzelnen Verbraucher zuschieben. Das Gleiche gilt für das Übergewicht. Wir können nicht die Schuld nur denjenigen zuweisen, die zu dick sind, wie das in Deutschland immer passiert. Tatsächlich essen alle zu viel, nur dass man das nicht allen ansieht. Ein Ernährungsproblem haben dennoch die meisten. Das Ziel muss sein, dass wir alle automatisch eine gesündere Entscheidung treffen, weil diese zum Beispiel günstiger, attraktiver oder verfügbarer ist.
Beim Thema Regulierung gibt es in Deutschland traditionell viel Widerstand. Ich erinnere nur an die Debatte um den »Veggie-Day« in öffentlichen Kantinen.
Vielleicht ist dafür die Zeit jetzt reif. Es gibt so viele Menschen, die sich für vegetarische oder vegane Alternativen interessieren und diese ausprobieren. Das beobachten wir auch bei den Studierenden. In einer langfristigen Studie, der Freshman-Studie, erheben wir die Ernährung und den Gesundheitszustand im ersten Semester (siehe Kasten). Wir unterscheiden dabei drei Gruppen, je nachdem ob die Studierenden vegetarisch, vegan oder alles essen. Gerade im ersten Studienjahr ändert sich die Ernährungsweise bei Studierenden häufig, da sie meist nicht mehr zu Hause essen und essen können, was sie wollen. Studien zufolge haben sie in dieser Zeit ein hohes Risiko für eine Gewichtszunahme.
Eine vegetarische oder vegane Ernährung ist übrigens nicht zwangsläufig gesünder. Als ich studiert habe, hat die »deutsche Vegetarier-Studie« gezeigt, dass Menschen, die sich vegetarisch ernähren, länger leben und schlanker sind. Das ist heute nicht mehr unbedingt der Fall. In Indien zum Beispiel, wo es sehr viele Vegetarier gibt, beobachtet man eine starke Zunahme von Diabetes. Das liegt auch an dem zunehmenden Trend zu hochverarbeiteten Lebensmitteln. Gerade diejenigen, die auf Fleisch oder generell auf tierische Produkte verzichten, essen heute mehr hochverarbeitete Ersatzprodukte. Inzwischen wird in Deutschland nahezu die Hälfte der Kalorien über hochverarbeitete Lebensmittel verzehrt. Fertigprodukte, Kekse und Süßigkeiten mögen ja vegetarisch oder vegan sein, aber sie sind eben nicht gesund, weil sie zum Beispiel sehr energiedicht sind, schnell verzehrt werden können, ohne nachhaltig zu sättigen oder den Blutzuckerspiegel schnell ansteigen lassen.
Einen erheblichen Anteil an der Misere hat ja die Ernährungsindustrie. Wie wollen Sie die mitnehmen?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. In der Ernährungswissenschaft forschen wir traditionell mit der Industrie. Die Ernährungsindustrie ist Teil des Problems, sie muss auch Teil der Lösung sein. Ich habe immer den Dialog mit der Industrie gesucht. Es ist wichtig, gemeinsam nach Lösungsstrategien zu suchen, um eine Ernährungswende zu erreichen.
Das Interview führte Kerstin Nees

Anja Bosy-Westphal
* jährliche repräsentative forsa-Umfrage unter 1.000 Verbraucherinnen und Verbrauchern im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Mehr unter bit.ly/ernaehrungsreport2021
Anja Bosy-Westphal ist Professorin für Humanernährung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Erstis für Freshman-Studie gesucht!
Im Sommersemester werden wieder Erstsemester-Studierende aus Kiel in die Freshman-Studie aufgenommen. Teilnehmen können alle gesunden 18- bis 25-Jährigen, die sich seit mehr als drei Monaten entweder vegetarisch, vegan oder auf Basis einer Mischkost ernähren. Teilnehmende erhalten eine Analyse ihrer Vitamin-B12- und Eisen-Versorgung sowie der Körperzusammensetzung. (ne)
Anmeldung:
www.umfragen.uni-kiel.de/986257
studie@nutrition.uni-kiel.de
Telefon: 0431 880-5622/-5689
Siehe auch Interview mit Anja Bosy-Westphal zur klimafreundlichen Ernährung: bit.ly/interview-bosy-westphal
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