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Nr. 27, 08.01.2005  voriger  Übersicht  weiter  REIHEN  SUCHE 

Verführt vom Zeitgeist

Für das Historische Wörterbuch der Philosophie »jagte« Ralf Konersmann dem Zeitgeist hinterher. Wofür »Zeitgeist« steht und wie der Begriff entstand, erklärt der Professor für Philosophie im Interview mit unizeit.


Prof. Ralf Konersmann
Foto: Alberto Mende © Uni Kiel

unizeit: Von Model-Agentur über Musikband und Theatergruppe bis hin zur Zeitschrift oder Kneipe – der Begriff Zeitgeist muss als Name für einiges herhalten. Was denken Sie, welche Assoziationen sollen mit diesem Begriff geweckt werden?

Prof. Rolf Konersmann: Die Grundfunktion ist zunächst einmal Orientierung. Seit 250 Jahren springt der Zeitgeist-Begriff ein, wo andere Orientierungen fehlen. Er kreiert gleichsam aus dem Augenblick Zeichen, Symbole, Ausdrucksformen im weitesten Sinne. Wir haben es hier mit einer Wechselwirkung zu tun. Diejenigen, die sich zum Zeitgeist bekennen, finden an ihm Halt und Sicherheit, und umgekehrt definiert die Anerkennung solcher Vorgaben Zeitgenossenschaft und Zugehörigkeit zu ein und derselben Generation. Der ganze Begriffskreis: Generation, Aktualität, Zeitgenossenschaft, Mode, Gegenwart, Zeitgeist bildet einen Verweisungszusammenhang.

Was unterscheidet Zeitgeist von Trend?

Der Zeitgeist ist ein allgemeiner, ein ursprünglich philosophischer Begriff, und von Beginn an gibt es die Vorstellung, dass er sich in diesem und jenem verkörpern könne. Im Unterschied dazu macht der Trend ganz konkrete Vorgaben auf materialer Ebene, zum Beispiel ein charakteristisches Verhalten, auch ein Sprachverhalten. Das ist eher vordergründig.

Der Begriff ist immer noch sehr abstrakt.

Er ist auch tatsächlich abstrakt, und das macht den Reiz der Sache aus. Der Zeitgeist ist vor dem Hintergrund sehr komplexer geistiger Veränderungen entstanden, und als theoretischer Begriff hatte er ganz bestimmte Probleme zu lösen. Auf der anderen Seite ist er aber für diejenigen, die sich an ihn gebunden fühlen, ganz konkret, und im Grunde glaubt jeder zu wissen, was genau der Zeitgeist verlangt.

Irgendwann ist Philosophen und Intellektuellen aufgefallen, dass den Europäern mit der Zeit gewisse Hintergrundsicherheiten verloren gegangen sind – vor allem jene Orientierungen, die das Christentum zur Verfügung gestellt hatte. In dieser Lage ist der Zeitgeist ein »Vorschlag zur Güte«. Er wirbt mit dem Angebot, an die Stelle der großen Erzählungen, die wir verloren haben, kleine Erzählungen von begrenzter Geltungsdauer zu setzen, die wir uns gemeinsam ausdenken und die heute zum Beispiel von Filmen, der Popkultur und anderen Medien inszeniert werden. Der Zeitgeist improvisiert ein Sinnangebot, das nur für uns, für diese Zeit, für unsere Gegenwart gelten soll. In seinem Namen entwerfen wir spielerisch Normen, denen wir folgen können.

Aber man kann ihn nicht benennen oder sagen, er sieht so und so aus?

Ich habe, als ich mich mit dem Zeitgeist und seiner Begriffsgeschichte beschäftigt habe, immer wieder versucht, Bildmaterial zu finden. Von den großen Begriffen der europäischen Tradition, von der Freiheit, der Vernunft oder der Wahrheit zum Beispiel, hat es allegorische Figuren gegeben, Frauengestalten zumeist, die idealisierten, welche Eigenschaften in den betreffenden Formeln zusammenkommen und sie auszeichnen. So etwas ist beim Zeitgeist offenbar schwierig. Der Zeitgeist tritt durchgängig anonym, ja nahezu konsequent bilderlos auf. Die einzige Zeichnung, die ich kenne, ist eine Karrikatur aus dem beginnenden 19. Jahrhundert. Da tritt der Zeitgeist auf und gleich daneben der Anti-Zeitgeist. Der eine als Figur, die aus lauter geläufigen Ideen zusammengesetzt ist wie ein Porträt von Arcimboldo und der sich lächerlich macht, weil er nicht stimmig ist und sich allerlei Gängiges nach Belieben zusammengesucht hat. Und da haben Sie schon den klassischen Vorbehalt: ›Der Zeitgeist ist beliebig, halbgebildet und oberflächlich‹. Das drückt diese Karrikatur aus. Aber auch der Anti-Zeitgeist kommt schlecht weg, weil seine Überlegenheit bloß angemaßt ist, weil er die Nase hochträgt und doch nichts Besseres zu bieten hat.

Wer legt fest, was Zeitgeist ist?

Ich denke, das ist ein anonymes Geschehen, und auch das macht die Sache interessant. Wir müssen uns doch fragen: Wie entsteht denn so etwas wie Zeitgeist-Konformität? Wie vollziehen sich diese Routinen der Einwilligung, der Zustimmung, der Gefolgschaft oder, auf der anderen Seite, der großen Verweigerung und Zurückweisung? Wie entstehen Faszinationen, wie gewinnen sie materielle Gestalt?

Das sind, semantisch gesehen, ausgesprochen subtile Prozesse. Und das Erstaunliche ist, dass sie auch diejenigen zuverlässig erreichen, man möchte sagen, gerade diejenigen, die sich über den Ablauf solcher Prozesse überhaupt keine Gedanken machen. Da gibt es offensichtlich unterschwellige Signalsysteme, die natürlich von keiner Zentrale gesteuert werden. Die Effektivität solcher Appelle ist rein aus der Bereitschaft heraus zu erklären, in der vorgefundenen Gemeinschaft der Lebenden, die offenbar zutiefst bejaht wird, nach Verbindlichkeiten zu suchen und sich ihnen unbedingt verpflichtet zu fühlen.

Wie häufig wechselt der Zeitgeist?

Permanent. Das ist nicht greifbar in dem Sinne, dass man mit dem Finger auf irgendetwas zeigen könnte und sagt, seht her, da steht er. Der Zeitgeist verkörpert sich in dem, was uns ohnehin vor Augen liegt. Als Routiniers im Umgang mit symbolischen Ordnungen – Themen, Stilen, Verhaltensweisen, Denkfiguren – haben wir für diejenigen kulturellen Tatsachen, die Zeitgeist-Verkörperungen sind, einen geschärften Blick.

Das Wort Zeitgeist ist im Deutschen einzigartig und ist deutsches Fremdwort unter anderem in Englisch, Spanisch, Japanisch und Holländisch. Wie kommt das?

Das hängt damit zusammen, dass der Begriff ursprünglich geschichtsphilosophisch aufgeladen war und im 18. Jahrhundert von Leuten wie Herder, Schiller oder Hegel verbreitet worden ist. Im Englischen sind es zum Beispiel Goethe-Leser gewesen, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Begriff aufgenommen haben. Die haben gespürt, dass da etwas philosophisch Brisantes entstanden war, etwas Epochenspezifisches. Und in der Tat formuliert der Zeitgeist ein Problem, für das es noch immer keine befriedigende Lösung gibt.

Und das wäre?

Philosophisch gesehen, versucht der Zeitgeist die Antwort auf eine Frage. Sie lautet: Wie kann das Wissen, das als wahres Wissen zeitlos ist, in einem gegebenen Augenblick, vorzugsweise im Hier und Jetzt, gültig werden? Wie passen die Zeitlosigkeit der Wahrheit und der Zeitbezug der Erkenntnis zusammen?
Seit dem 18. Jahrhundert machen wir die Erfahrung der Geschichtlichkeit des Wissens, und seither strapaziert diese Erfahrung des Wandels das alte, idealerweise in der Mathematik verkörperte Wissensmodell der Zeitlosigkeit.
Der Zeitgeist ist eine Art Hilfskonstruktion, um hier einen Ausgleich zu finden. Mit diesem Hilfsangebot verbunden ist aber auch seine Macht als Verführer. Daher ist Skepsis geboten.
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