Sträfliche Versäumnisse
Wie gefährlich ein Sexualstraftäter ist, wird im Ermittlungsverfahren nicht routinemäßig erfasst. Damit vergeben wir die Chance, etwaige Wiederholungstäter frühzeitig zu erkennen.

Wird er es wieder tun? Diese Frage beschäftigt die Öffentlichkeit, wenn ein Sexualstraftäter freikommt. Doch die Prognose ist schwierig, da diese Frage vor Gericht oft kein Thema ist. Foto: Digital Stock
Das hat eine Studie des Zentrums für Rechtspsychologie, Kriminalwissenschaften und forensische Psychopathologie (ZRKfP) an der CAU ergeben, die der Kieler Sexualmediziner Professor Hartmut Bosinski initiiert hat. Gegenstand der Untersuchung waren die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten sämtlicher Sexualstraftäter eines Jahrgangs in Schleswig-Holstein. Von insgesamt 306 erhobenen und zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklagen konnten 291 ausgewertet werden. Nur in 34 Fällen, also bei knapp 12 Prozent, wurde der Angeklagte von einem Gutachter untersucht. Von denjenigen, die wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung oder sexuellen Kindesmissbrauchs vor Gericht standen, wurde nur jeder siebte zuvor begutachtet. Weder die Schwere der Tat noch einschlägige Vorstrafen erhöhten die Wahrscheinlichkeit einer Begutachtung.
»Das Problem ist, dass ein Gutachten in der Regel nur dann eingeholt wird, wenn es Anzeichen für eine mögliche Schuldunfähigkeit gibt«, erklärt Professor Günter Köhnken vom Institut für Psychologie, der an der Studie beteiligt war. Was den Angeklagten zu seiner Tat veranlasst hat und wie groß die Gefahr ist, dass er wieder ein Kind missbraucht oder eine Frau vergewaltigt, steht nicht im Fokus der Justiz. Die Folge: Urteile werden in der Regel ohne eine Risikoeinschätzung zur Tatwiederholung gefällt. Das ist ein Manko und selbst für Fachleute völlig unverständlich. »Da reden wir seit zehn Jahren über Sicherungsverwahrung und machen nicht einmal das Einfachste«, beklagt Professorin Monika Frommel, die das Institut für Sanktionenrecht und Kriminologie leitet. Jeder Angeklagte müsse über seine Vermögensverhältnisse Auskunft geben, aber bei Sexualstraftätern erfasse man nicht einmal Gefährlichkeit oder Tatmotivation.
Gefährlichkeitsgutachten sollten routinemäßig bei jedem Sexualdelikt erfolgen, und zwar unabhängig von der Frage der Schuldfähigkeit, fordert die Strafrechtlerin. Nur so ließen sich Täter mit hohem Rückfallrisiko frühzeitig identifizieren. Köhnken erinnert sich an einen Mord an einer jungen Frau. Der später Verurteilte war einschlägig vorbestraft – wegen Vergewaltigung. In Übereinstimmung mit der gültigen Rechtslage war er früher nie begutachtet worden – es gab keine Zweifel an seiner Schuldfähigkeit. »Wenn er rechtzeitig, also spätestens beim zweiten Mal, begutachtet worden wäre, dann hätte man vermutlich damals schon seine Gefährlichkeit erkannt und rechtzeitig entsprechende Maßnahmen ergreifen können«, mutmaßt Köhnken.
Professor Bosinski führt noch einen weiteren Grund dafür an, warum ein Gutachten schon im gerichtlichen Hauptverfahren vorteilhaft ist. »Der Gutachter hat wesentlich breitere Erkenntnismöglichkeiten als bei einer späteren Begutachtung im Rahmen des Strafvollzugs.« So könnten hier zum Beispiel Zeugen befragt werden, die eventuell Auskunft über früheres Verhalten des Angeklagten, zum Beispiel auch über dessen bevorzugte Sexualpraktiken geben. Später sei dies kaum noch möglich. Hinzu komme, dass ein großer Teil eine Bewährungsstrafe erhalte. Bosinski: »Die kriegt man überhaupt nicht mehr zu fassen. Sie tauchen zum Beispiel auch nicht in der JVA als Patient einer Therapie auf, wo man weitere Erkenntnisse gewinnen könnte.«
Gestützt unter anderem auf die Daten der Kieler Studie haben Axel Boetticher, ehemaliger Bundesrichter, und Klaus Michael Boehm, vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, vergangenes Jahr ein Memorandum zur Änderung der Strafprozessordnung und des Strafgesetzbuchs beim Bundesjustizministerium eingereicht. Sie beanstanden darin die ungenügende psychopathologische Einordnung von Sexualstraftätern im Erkenntnisverfahren und schlagen vor, routinemäßig einen Sachverständigen zu vernehmen.
Kerstin Nees
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