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Nr. 60, 29.05.2010  voriger  Übersicht  weiter  REIHEN  SUCHE 

Das Erbe großer Forschungsreisender

Viel bürgerliche Romantik und auch die Sehnsucht nach fernen Welten steckte einst in den Herbarien. Heute sind sie von unschätzbarer wissenschaftlicher Bedeutung.


Das Kieler Herbarium beherbergt viele seltene Schätze wie diese Mitbringsel von Inseln im Südpazifik: Polyscias pinnata und Fimbristylis junceus. Foto: Martin Nickol, CAU

Sammlungen getrockneter und gepresster Pflanzen mögen zu­nächst wenig attraktiv erscheinen. Die Herbarbögen, auf denen diese Pflanzen aufgeklebt sind, zeigen aber selbst nach Jahrhun­derten noch alle Details und verblüffende Farbechtheit. »Das ist wirklich faszinierend«, schwärmt Dr. Martin Nickol, Kustos des Botanischen Gartens der Universität Kiel und Leiter des Universi­tätsherbariums.

Nickol ist für zahllose aktiv im Dienst der Wissenschaft grünende Pflanzen zuständig und auch fürs Archiv der Kieler Botaniker. Gut und gern 120.000 Herbarbögen lagern sicher und trocken in den Stahlschränken des Biozentrums. Die ältesten bislang identifi­zierten stammen aus dem Jahr 1764, jede Menge weitere sind um die zweihundert Jahre alt. Besonders stolz ist Nickol auf seine etwa 4500 Typen. So werden im Fachdeutsch jene Exemplare genannt, deren Sammler zugleich ihre erste wissenschaftliche Beschreibung verfasst hat. Belege von berühmten Naturforschern und »Pflanzen­jägern« wie Humboldt, Forster, Chamisso und auch Linné-Schülern sind darunter.

Womit sich der Kreis auch in gewisser Weise schließt. Herbarien sind einerseits hübsch anzusehen und andererseits von unend­lichem Nutzen. Jeder Pflanzenname hängt an einem solchen Bo­gen, jede noch so moderne Untersuchung braucht diesen »Ur­meter« der Botanik als maßgebliche Referenz. Die getrockneten Pflanzen bewahren zudem geballtes Wissen. Von der Wuchsgröße über die Belastung mit Schadstoffen bis hin zur genetischen Struktur lassen sich anhand der gepressten Originale weitreichende Aussagen über lange zurückliegende Epochen genauso wie über noch so entlegene Gebiete treffen. Weil sich die entsprechenden Analysemethoden immer weiter entwickeln, ist das Herbarium eine nie versiegende Quelle des Wissens und teilt sogar nach Jahrhunderten noch Neues etwa zu genetischen Strukturen mit.

Dass das Kieler Herbarium mit Forschern von allen fünf Kontinenten kooperiert, ist kein Wunder. Schließlich trifft sich auf den 120.000 Papierbögen die Natur des gesamten Globus. Reisende Forscher oder Pflanzen sammelnde Ärzte, Apotheker und Lehrer legten im Laufe der Zeit einen Fundus an, in dem kaum eine Ecke der Erde nicht vertreten ist. Dabei gelangen die Kostbarkeiten, die einst aus vieler Herren Länder auf Segelschiffen in das Kieler Herbarium gebracht wurden, heute überwiegend als digitalisierte Bilder in Datenbanken und an Forscher in aller Welt. »Das ist die moderne Vernetzung über Raum und Zeit«, sagt Nickol. Und den riskanten Postweg kann man den wertvollen Kieler Pflanzen dadurch oft ersparen.

So kommt es, dass sich im Universitätsherbarium immer noch ein äußerst wohlbehaltenes Gras findet, das der erste Besucher Neukaledoniens pflückte und das danach nie mehr gesehen wurde. Zu bestaunen ist aber auch eine beispiellos umfassende Sammlung von Pflanzen aus Schleswig-Holstein, also der Flora unmittelbar vor der Haustür der Universität.

Gesammelt wurde laut Nickol alles, was typisch oder aber selten ist. Deshalb kann es durchaus möglich sein, dass sich das eine oder andere Gewächs leichter im Herbarium als in der freien Natur finden lässt – wenn es nicht gar ganz aus dieser verschwunden ist. Weltweit mehrere hundert Pflanzen, die nur noch in konservierter Form existieren, dürfte es nach Nickols Schätzung schon jetzt geben. Was die Ursachen betrifft, ist das Schicksal des Pflänzleins, das der große deutsche Naturforscher Georg Forster in Neukaledonien auf der zweiten Cookschen Weltumseglung fand, sehr typisch. Just wo jenes Gras gedieh, legten immer mehr Schiffe an, wurden Lagerflächen benötigt, machte sich also die menschliche Zivilisation breit – für manche Pflanzen gar zu breit.

In den kommenden Jahrzehnten, so fürchtet der Kieler Kustos, dürfte dieser Prozess noch wesentlich dramatischer werden, so dass ein Vielfaches an Pflanzen für immer dahingewelkt sein wird. Eigentlich müsste deshalb intensiver denn je gesammelt werden, um das Verlorengehende wenigstens für die Wissenschaft zu retten, meint Nickol. Doch Sponsoren wie Altkanzler-Gattin Loki Schmidt, die 2006 den Deutschen Umweltpreis erhielt und 1000 Euro des Preisgeldes dem Kieler Herbarium zukommen ließ, sind heutzutage selten. Und die Ärzte, Apotheker oder Lehrer haben sich längst anderen Hobbys zugewandt.

Martin Geist
Getrocknete und vor allem jede Menge tatsächlich grünende Pflanzen können am
Sonntag, 13. Juni, von 9 bis 16 Uhr beim Tag der offenen Tür im Botanischen Garten
bewundert werden.
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