
»Die Medizinethik vermittelt keine fertigen Lösungen«
Claudia Bozzaro ist seit Oktober 2020 neue Professorin für Medizinethik an der CAU. Im unizeit-Interview spricht sie über die Herausforderung, Antworten auf große gesundheitspolitische Fragen zu finden, und über die Grenzen der Medizin.

unizeit: Frau Professorin Bozzaro, Sie sind promovierte Philosophin, haben zudem Kunstgeschichte, Neuere Geschichte, Theologie und Psychologie in Paris und Freiburg studiert, bevor Sie in der Medizinethik tätig wurden. Wie kommen Sie als Geisteswissenschaftlerin zur Medizin, beziehungsweise zur Medizinethik?
Claudia Bozzaro: Die Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie, das mich schon früh im Studium interessiert hat. Im Rahmen meiner Promotion hatte ich die Chance, in einem interdisziplinären Forschungsprojekt mitzuarbeiten und bin auf diese Weise erstmals mit der Medizinethik in Berührung gekommen. Ich habe sofort gemerkt, dass mich dieser Bereich enorm interessiert und dass ich da, gerade als Geisteswissenschaftlerin, wichtige Anliegen aufnehmen und Impulse setzen kann.
Die Medizin als Wissenschaft und Praxis ist ohnehin auf Erkenntnismethoden angewiesen, die sowohl aus den Natur- als auch aus den Sozial- und Geisteswissenschaften stammen. Die Medizinethik selbst ist seit ihrer Entstehung ein interdisziplinäres Fach. Klassische medizinethische Fragestellungen, wie die Fragen danach, wann genau menschliches Leben beginnt und endet, welche moralischen Pflichten Ärztinnen und Ärzte gegenüber ihren Patientinnen und Patienten haben oder wodurch eine gerechte Verteilung von knappen medizinischen Ressourcen sich auszeichnet, sind keine Fragen, die man allein aus medizinischer Perspektive beantworten könnte. Das sind komplexe Fragen, die auf anthropologische und kulturelle Vorannahmen verweisen, deren Beantwortung von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig sind und die überdies rechtliche sowie moralische Implikationen haben.
Was macht eine Medizinethikerin? Wie sieht die Lehre aus? Und wie wichtig ist es, das Fach im Medizinstudium mit zu behandeln?
Meine Arbeit ist sehr vielfältig: Ich bin in Lehre und Forschung tätig und engagiert in einigen Gremien wie beispielsweise der Ethikkommission, die Anträge zur klinischen Forschung begutachtet.
Ich finde es enorm wichtig, dass Medizinstudierende sich während ihrer Ausbildung auch mit ethischen Fragestellungen beschäftigen müssen. Aus meiner Lehrtätigkeit im Weiterbildungsbereich ist mir bekannt, dass viele Ärztinnen und Ärzte in ihrem Beruf mit ethischen Konflikten und Problemen konfrontiert werden, auf die sie sich durch ihre Ausbildung nicht ausreichend vorbereitet fühlen. Wobei wichtig ist zu unterstreichen, dass es in der Medizinethik nicht darum geht, fertige Lösungen für ethische Probleme zu vermitteln. Vielmehr steht im Zentrum, die Fähigkeit zur Reflexion und zur persönlichen Auseinandersetzung mit moralischen Fragen zu schulen.
Welche Herausforderungen ergeben sich in Corona-Zeiten für Sie als Medizinethikerin?
Tatsächlich stellt uns die Corona-Pandemie vor viele ethisch relevante und schwierige Fragen. Momentan geht es um Triage-Entscheidungen, das heißt, wie verteilt man knappe Ressourcen: Die Priorisierung bei der Impfstoffverteilung, die Einstellung ausgewählter Versorgungsbereiche in der Gesundheitsversorgung und nicht zuletzt die schwierigen Abwägungen zwischen Nutzen und Schaden eines Lockdowns gehören dazu. Daneben konfrontiert uns die Pandemie aber auch mit Grundsatzfragen, die uns noch lange beschäftigen werden, darunter die Diskussion um ein würdiges Altern und Sterben, Überlegungen rund um unseren Umgang mit der Natur bis hin zu den Bedingungen für eine effektive und solidarische Gesundheitsversorgung in einer globalisierten Welt.
Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
In den vergangenen Jahrzehnten lag der Schwerpunkt der medizinethischen Diskurse auf der Sicherung der individuellen Autonomie der Patientinnen und Patienten sowie auf klinisch-ethischen Themen, die die Behandlung Einzelner betrafen. Auch wenn diese Anliegen wichtig bleiben, glaube ich – und das hat uns auch die Pandemie vor Augen geführt –, dass wir wieder stärker Beziehungen, Organisationen und die Gesellschaft als Ganzes betreffende Fragen aufgreifen müssen. Am besten kann ich das anhand einiger Stichworte andeuten, die mir wichtig scheinen: Altruismus, Solidarität, Verantwortung für sich und die anderen, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Das sind Begriffe, die mit komplexen Diskursen und weitreichenden ethischen Fragen verbunden sind. Sie werden mit Sicherheit auch für die Medizinethik in den kommenden Jahren zunehmend von Bedeutung sein.
Wo wollen Sie Schwerpunkte setzen?
Mir ist der interdisziplinäre Austausch wichtig. Zudem möchte ich Brücken zwischen der Medizinischen Fakultät und den anderen Fakultäten aus- oder aufbauen. Inhaltliche Schwerpunkte, die ich dabei setzen möchte, betreffen ethische Fragestellungen am Lebensende, Herausforderungen im Umgang mit chronischen Erkrankungen und den Bereich einer gerechten und nachhaltigen Gesundheitsversorgung. Die gesamte Medizin ist zudem zunehmend geprägt von der Digitalisierung, mit der viele neue Möglichkeiten, gleichzeitig aber auch weitreichende Herausforderungen verbunden sein werden. Auch diese werden dazu beitragen, dass mir während der kommenden Jahre die Themen nicht ausgehen werden.
Das Interview führte Jennifer Ruske.
Kurzvita Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro
Seit 1.Oktober 2020 Leiterin des Geschäftsbereichs der Medizinethik an der CAU, Institut für Experimentelle Medizin der Medizinischen Fakultät. 2020 Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg. 2010–2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Freiburg, 2010 Promotion am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg. Studium der Philosophie und der Kunstgeschichte an den Universitäten Freiburg und Paris. (JR)
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