Immer gegen den Uhrzeigersinn
Rätsel frühneolithischer Hausausrichtungen endlich gelöst
Menschliches Verhalten wird von vielen Dingen beeinflusst, die uns meist unbewusst bleiben. Dazu gehört ein Phänomen, das unter Wahrnehmungspsychologen unter dem Begriff „Pseudoneglect“ bekannt ist. Damit bezeichnen sie die Beobachtung, dass gesunde Menschen ihr linkes Gesichtsfeld gegenüber dem rechten bevorzugen und deshalb eine Linie regelhaft links der Mitte teilen.
Eine am Freitag, 10. Januar, in der Online-Zeitschrift PLOS ONE veröffentlichte Studie zeigt nun erstmals, welchen Effekt diese unscheinbare Abweichung in der prähistorischen Vergangenheit hatte. Ein slowakisch-deutsches Forschungsteam hat die Ausrichtung frühneolithischer Häuser in Mittel- und Osteuropa untersucht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereiches (SFB) „TransformationsDimensionen“ der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Slowakischen Akademie der Wissenschaften gelang dabei der Nachweis, dass die Orientierung neu gebauter Häuser um einen kleinen Betrag von derjenigen bereits bestehender Bauwerke abweicht und dass diese Abweichung regelhaft gegen den Uhrzeigersinn erfolgte.
Archäologe Dr. Nils Müller-Scheeßel, der die Studie innerhalb des SFB koordinierte, sagt dazu: „Seit langem geht man in der Forschung davon aus, dass die frühneolithischen Häuser ungefähr eine Generation, dass heißt 30 bis 40 Jahre gestanden haben und in regelmäßigen Abständen neue Häuser neben bereits bestehenden errichtet werden mussten. Durch Altersbestimmungen mithilfe der Radiokarbonmethode können wir nun zeigen, dass die Neuerrichtung mit einer kaum wahrnehmbaren Drehung der Hausachse gegen den Uhrzeigersinn verbunden war. Wir sehen ‚Pseudoneglect‘ als wahrscheinlichste Ursache dafür.“
Möglich wurde diese Erkenntnis durch die Interpretation eines der zur Zeit am schnellsten wachsenden archäologischen Datenbestände, nämlich der Ergebnisse geophysikalischer Magnetikmessungen. Dabei werden Unterschiede im Erdmagnetfeld dazu genutzt, um im Untergrund liegende archäologische Befunde sichtbar zu machen. Frühneolithische Hausgrundrisse gehören zu den am besten identifizierbaren Befundgattungen.
„In den letzten Jahren haben wir in unserem Arbeitsgebiet in der Südwestslowakei mit geophysikalischen Prospektionsmethoden Hunderte von frühneolithischen Häusern entdeckt. Diese Häuser alle auszugraben ist weder möglich noch aus denkmalpflegerischen Gründen überhaupt wünschenswert. Die Möglichkeit, über ‚Pseudoneglect‘ die Häuser ohne Ausgrabung in eine relative Abfolge zu bringen und damit das Siedlungsgeschehen einer ganzen Kleinregion aufzuschlüsseln, hebt unsere Forschung auf ein ganz neues Niveau“, äußert sich Müller-Scheeßel begeistert. „Die absolute Datierung mit naturwissenschaftlichen Methoden muss selbstverständlich in jedem Fall die Grundtendenz bestätigen.“
In der Studie wird ferner auf vergleichbare archäologische Beobachtungen an anderen Orten und Zeiten verwiesen, die zeigen, dass ähnliche Orientierungsveränderungen auch für jüngere prähistorische Perioden zuzutreffen scheinen. Die Bedeutung von „Pseudoneglect“ reicht also weit über die Datierung frühneolithischer Häuser hinaus.
Text und Redaktion: Angelika Hoffmann
Kontakt:
Dr. Nils Müller-Scheeßel
Institut für Ur- und Frühgeschichte
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
nils.mueller-scheessel@ufg.uni-kiel.de
0431/880-2067
Originalpublikation:
Müller-Scheeßel N, Müller J, Cheben I, Mainusch W, Rassmann K, Rabbel W, et al. (2020) A new approach to the temporal significance of house orientations in European Early Neolithic settlements. PLoS ONE 15(1): e0226082.
ttps://doi.org/10.1371/journal.pone.0226082
Mehr Informationen zum SFB:
www.sfb1266.uni-kiel.de