Schneckenzähne unter Stress

Forschungsteam der CAU und der Universität Hamburg erstellt erste biomechanische Untersuchung zur Leistung von Schneckenzähnen

 

Ihr besonderes Mundwerkzeug hilft Schnecken, sich an die verschiedensten Nahrungsangebote und Lebensräume anzupassen. Ein Forschungsteam des Zoologischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und des Centrums für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg konnte nun erstmals die Arbeitsleistung der Zähne biomechanisch messen und daraus unterschiedliche funktionelle Zusammenhänge ableiten. Die Ergebnisse sind im Fachjournal Proceedings of the Royal Society Biological Sciences erschienen.

An Land oder im Wasser gibt es weltweit mehr als 80.000 Schneckenarten. An ihren jeweiligen Lebensraum und die unterschiedlichen Nahrungsquellen passten sie sich unter anderem durch die jeweilige Ausprägung ihrer sogenannten Radula an. Dieses Mundwerkzeug besteht aus einem Chitinband, das mit Dutzenden bis zu Tausenden winzigen Zähnchen in Längs- und Querreihen besetzt ist. Wie fast alle Weichtiere nutzen die Schnecken diese Raspelzunge zum Zerkleinern und Verarbeiten ihrer Nahrung. Ihre Zähne sind dabei weicher als der Untergrund, von dem sie ihre Nahrung abtragen. „Dennoch haben wir in einem vorhergehenden Experiment festgestellt, dass einzelne Zahnspitzen umgerechnet mit einem Druck von bis zu 4700 bar auf die Nahrung und ihren Untergrund einwirken können. Durch diesen sehr hohen, punktuellen Druck verschleißen die Zähne schnell, deswegen bilden die Tiere pro Tag mehrere Zahnreihen neu“, erklärt Dr. Wencke Krings, Research Associate am Hamburger CeNak. Die Funktionsweise der Zähne erforschte Krings bereits in ihrer Dissertation an den Universitäten Hamburg und Kiel.  
 

Experimente weisen unterschiedliche Zahnfunktionen nach

Gemeinsam mit Professor Stanislav N. Gorb und Dr. Alexander Kovalev aus der Arbeitsgruppe „Funktionelle Morphologie und Biomechanik“ am Zoologischen Institut der CAU konnte sie nun erstmals in einem biomechanischen Experiment die Arbeitsleistung der Zähne messen und dabei unterschiedliche Zahnfunktionen beschreiben. Dafür wurden die Zahnkuppen bis zum Versagen mit einer Nadelspitze belastet, die an einem Kraftsensor befestigt war. Die Kräfte, die zum Brechen der Zähne oder zum Versagen der Radula führten, wurden dabei aufgezeichnet. „Mithilfe von Rasterelektronenmikroskop-Analysen haben wir die Bruchflächen vermessen, um den physikalische Stress zu berechnen, den die Strukturen aushalten können“, so Gorb. Verwendet wurden dafür Schneckenzähne aus bereits bestehenden wissenschaftlichen Sammlungen.

Es zeigte sich, dass manche Zahntypen deutlich mehr Stress aushalten als andere. Das deute darauf hin, dass unterschiedliche Bereiche der Radula verschiedene Funktionen haben, so das Forschungsteam. Manche Zähne dienten dazu, Nahrung von einer Oberfläche zu kratzen, andere sammeln die Nahrung ein. Diese These unterstützen auch ergänzende Untersuchungen der Materialeigenschaften der Zähne: „Bei manchen Arten sind die Zähne in einigen Lebensräumen deutlich härter als in anderen, was zeigt, wie stark die mechanischen Eigenschaften der Radula mit den Eigenschaften des Untergrunds und der Nahrung korrelieren“, so Krings. Normalerweise sind diese regionalen Unterschiede bei Weichtierzähnen auf Eiseneinlagerungen zurückzuführen. Bei den hier untersuchten Zähnen und generell bei den meisten Schnecken ist allerdings kein Eisen zu finden. Die Strukturen bestehen aus einem Chitin-Protein-Verbund, somit muss es andere Ursachen für die gefundenen Gradienten geben. Die Dichte und das Arrangement der Chitinfasern, aber auch der Grad der Gerbung der Zähne, die das molekulare Netzwerk des Materials stabilisiert, soll in diesem Kontext zukünftig weiter untersucht werden.


Überraschendes Ergebnis aus der Biomechanik: Zähne stabilisieren sich gegenseitig

Die Forschenden standen bei den Experimenten vor besonderen Herausforderungen: Da manche Schneckenzähne nur 0,05 bis 0,10 Millimeter groß sind, ist das Ermitteln der Materialeigenschaften selbst mit moderner Technik methodisch aufwendig. „Aber unsere Arbeitsgruppe ist auf die Charakterisierung der kleinsten biologischen Strukturen spezialisiert – da sind die hier untersuchten Zähne im Vergleich sogar noch recht groß“, erklärt Kovalev. In vielen internationalen Studien wurden aufgrund des methodischen Aufwands bisher nur Radulastrukturen im trockenen Zustand untersucht, obwohl die Schnecke ihre Zunge bei der Nahrungsaufnahme immer feucht hält.

Das Team aus Hamburg und Kiel hat daher nun erstmals einen Versuchsaufbau entwickelt, um die Zähne in trockenem und nassem Zustand zu untersuchen – mit einem unerwarteten Ergebnis. Wasser verändert die mechanischen Eigenschaften von biologischen Materialen sehr stark: Nasse Materialien sind deutlich weicher als trockene und lassen sich normalerweise leichter brechen. Bei den nassen Schneckenzähnen war dafür aber sogar mehr Kraft notwendig. „Nass sind die Radula-Zähne biegsam und ihre Verankerung im Radulaband ist elastisch, dadurch stützen sich die Zähne aufeinander ab und stabilisieren so die gesamte Struktur“, erklärt Gorb. „Solche Experimente sind kein blindes Vermessen der Natur, sondern liefern die Basis, die uns ein Verständnis der Organismen mit ihren vielfältigen Anpassungen an die Umwelt überhaupt erst ermöglicht.“

Auf Basis dieser Studie, die zum ersten Mal erfolgreich mit biomechanischen Methoden die mechanische Radula-Funktion und damit die Nahrungsanpassungen bei Schnecken erforscht hat, seien weitere experimentelle Ansätze denkbar, um der Evolution der Schnecken „auf den Zahn zu fühlen“. Zusätzlich könnten diese biomechanischen Erkenntnisse die Entwicklung spezieller Greiffunktionen in der Robotik vorantreiben.

Mikroskopbild von Schneckenzähnen
© Stanislav N. Gorb

Unter anderem mit dem Rasterelektronenmikroskop konnten den Zähnen, hier der Schneckenart Spekia zonata vom Tanganjikasee in Afrika, verschiedene Funktionen zugeordnet werden.

Originalpublikation:

Krings W., Kovalev A., Gorb SN. 2021 Influence of water content onmechanical behaviour of gastropodtaenioglossan radulae.Proc. R. Soc. B 288: 20203173 doi.org/10.1098/rspb.2020.3173

Über den CAU-Forschungsschwerpunkt KiNSIS:

Auf der Nanoebene herrschen andere, quantenphysikalische, Gesetze als in der makroskopischen Welt. Strukturen und Prozesse in diesen Dimensionen zu verstehen und die Erkenntnisse anwendungsnah umzusetzen, ist das Ziel des Forschungsschwerpunkts »Nanowissenschaften und Oberflächenforschung« (Kiel Nano, Surface and Interface Science – KiNSIS) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). In einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Physik, Chemie, Ingenieurwissenschaften und Life Sciences könnten daraus neuartige Sensoren und Materialien, Quantencomputer, fortschrittliche medizinische Therapien und vieles mehr entstehen. www.kinsis.uni-kiel.de

Wissenschaftlicher Kontakt:

Prof. Dr. Stanislav N. Gorb
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Zoologisches Institut
+49 431 880-4513
sgorb@zoologie.uni-kiel.de  
 

Dr. Wencke Krings
Universität Hamburg
Centrum für Naturkunde (CeNak)
+49 40 42838-3919
wencke.krings@uni-hamburg.de

Pressekontakt:

Julia Siekmann
Referentin für Wissenschaftskommunikation, Forschungsschwerpunkt Kiel Nano Surface and Interface Sciences (KiNSIS)