Ultraschnelle Elektronendynamik in Quantenmaterialien
Physikteam aus Wien und Kiel analysiert erstmals hochkomplexe Prozesse in Quantenmaterialien
Werden Materialien mit Ionen beschossen, wie bei der Herstellung von winzigen Strukturen auf Halbleitern, laufen dabei hochkomplexe Prozesse ab. Ein Forschungsteam der Technischen Universität (TU) Wien und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) konnte die extrem schnellen Abläufe jetzt zum ersten Mal rekonstruieren. Dafür kombinierten sie ausgeklügelte Messungen mit Computersimulationen. So zeigten sie auf einer Zeitskala von einer Femtosekunde – der Milliardste Teil einer Millionstel-Sekunde – was passiert, wenn ein Ion ultradünne Quantenmaterialien wie Graphen und Molybdändisulfid durchdringt. Dabei werden Elektronen vom Material abgegeben, die durch den Vergleich mit präzisen Computersimulationen Rückschlüsse auf den Ablauf der Prozesse ziehen lassen. Die Ergebnisse wurden in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals Physical Review Letters publiziert.
Hochgeladene Ionen wirbeln Elektronen durcheinander
Die Forschungsgruppe von Professor Richard Wilhelm am Institut für Angewandte Physik der TU Wien arbeitet mit hochgeladenen Ionen. Xenon-Atomen, die im neutralen Zustand 54 Elektronen besitzen, werden zwischen 20 und 40 Elektronen entrissen. Die stark positiv geladenen Xenon-Ionen, die übrigbleiben, werden anschließend auf eine dünne Materialschicht geschossen.
„Besonders interessieren wir uns für die Wechselwirkung dieser Ionen mit dem Material Graphen, das nur aus einer einzigen Lage von Kohlenstoffatomen besteht“, sagt Erstautorin Anna Niggas von der TU Wien. „Wir wussten nämlich schon aus unseren früheren Experimenten, dass Graphen ganz besonders interessante Eigenschaften hat: Der Elektronentransport ist extrem schnell. Bei solchen Prozessen wird meist auch eine große Anzahl von Elektronen emittiert, deren Anzahl und Energie wir genau vermessen konnten.“
Graphen gehört wie Molybdändisulfid zu den Quantenmaterialien, die auch in der Kieler Physik seit vielen Jahren intensiv untersucht werden. Sie zeichnen sich durch ungewöhnliche Eigenschaften aus, die auf quantenphysikalischen Effekten basieren. Da beide Materialien extrem dünn sind, ändern sich ihre Eigenschaften besonders drastisch, wenn ein hochgeladenes Ion durch sie hindurchdringt.
Femtosekundenschnelle Reise durch Quantenmaterialien
Computersimulationen sollen helfen, diese Experimente zu verstehen. Entwickelt wurden sie von Dr. Niclas Schlünzen, in Zusammenarbeit mit Dr. Karsten Balzer, in der Arbeitsgruppe von Professor Michael Bonitz am Institut für Theoretische Physik und Astrophysik der CAU. Durch den Vergleich zwischen Experiment und Theorie konnte das Forschungsteam gemeinsam entschlüsseln, was während der nur wenige Femtosekunden dauernden Wechselwirkung des Ions mit Graphen und Molybdändisulfid passiert:
Durch seine positive Ladung erzeugt das Ion ein elektrisches Feld. Sobald es sich den dünnen Quantenmaterialien nähert, beeinflusst es die Elektronen im Inneren. Sie bewegen sich bereits kurz vor dem Aufprall des Ions in Richtung der zukünftigen Einschlagstelle. Irgendwann wird das elektrische Feld des Ions so stark, dass Elektronen aus dem Material herausgerissen und vom hochgeladenen Ion eingefangen werden. Schließlich dringt das Ion durch das Material und es kommt zu einer komplizierten Wechselwirkung: In extrem kurzer Zeit überträgt das Ion sehr viel Energie auf das Material, wodurch noch mehr Elektronen ins Vakuum abgegeben werden. Wo im Material Elektronen fehlen, bleibt positive Ladung zurück. Um das auszugleichen, rücken schnell Elektronen aus anderen Bereichen des Materials nach.
Computersimulation erklärt unterschiedliches Verhalten der Materialien
Die genaue Analyse dieser Elektronenbewegungen zeigt: In Graphen laufen diese Prozesse extrem schnell ab und es entstehen kurzfristig starke Elektronenströme auf atomarer Skala. In Molybdändisulfid dauern die Prozesse dagegen deutlich länger.
Eine Erklärung dafür liefern die Simulationen der Kieler Forscher: Sie zeigen, dass die Verteilung der Elektronen in den Materialien wiederum die Elektronen stark beeinflusst, die schon zuvor herausgerissen wurden. Die Energieverteilung dieser herausgelösten Elektronen ist bei beiden Materialien sehr unterschiedlich – das erlaubt wichtige Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften und ablaufenden Prozesse im Inneren. Bonitz bilanziert: „Der Ionenbeschuss und die präzise experimentelle und theoretische Untersuchung der emittierten Elektronen stellen damit eine wichtige neue Diagnostik für moderne Quantenmaterialien dar, die eine ungewöhnlich hohe Orts-, Zeit- und Energieauflösung ermöglicht.“
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Michael Bonitz
Lehrstuhl Statistische Physik
Institut für Theoretische Physik und Astrophysik
Christian-Albrechts-Universität Kiel
+49(0)431/880-4122
bonitz@physik.uni-kiel.de
www.theo-physik.uni-kiel.de/~bonitz/
Prof. Dr. Richard A. Wilhelm
Atomic and Plasma Physics Group
Institut für Angewandte Physik
Technische Universität Wien
+43(0)1 58801-13435
wilhelm@iap.tuwien.ac.at
www.iap.tuwien.ac.at/www/atomic/index
Am Hochleistungscomputer im Keller des Kieler Physikzentrums konnten Niclas Schlünzen, Karsten Balzer, Jan-Philip Joost und Professor Michael Bonitz (v. l.) erstmals die komplexe ultraschnelle Elektronendynamik beschreiben, wenn hochgeladene Xenon-Ionen durch eine Atomlage von Graphen bzw. Molybdändisulfid hindurch fliegen.
Ein hochgeladenes Ion (rot) fliegt durch eine Atomlage eines Quantenmaterials (graue Punkte). Dabei wird den Festkörperatomen eine große Zahl von Elektronen entrissen, die sich ins Vakuum zum Detektor entfernen oder zum Festkörper zurückkehren (blaue Pfeile). Über ihr Schicksal entscheidet das elektrostatische Potential (blau), das die Elektronen des Festkörpers beim Durchtritt des Ions erzeugen.
Originalpublikation:
Anna Niggas, Janine Schwestka, Karsten Balzer, David Weichselbaum, Niclas Schlünzen, René Heller, Sascha Creutzburg, Heena Inani, Mukesh Tripathi, Carsten Speckmann, Niall McEvoy, Toma Susi, Jani Kotakoski, Ziyang Gan, Antony George, Andrey Turchanin, Michael Bonitz, Friedrich Aumayr, and Richard A. Wilhelm: Ion-Induced Surface Charge Dynamics in Freestanding Monolayers of Graphene and MoS2 Probed by the Emission of Electrons. Phys. Rev. Lett.129, 086802, 18 August 2022. https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.129.086802
Pressemitteilung der TU Wien:
www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/news/news/die-elektronen-zeitlupe-ionenphysik-auf-femtosekundenskala
Über den CAU-Forschungsschwerpunkt KiNSIS:
Im Nanokosmos herrschen andere, quantenphysikalische, Gesetze als in der makroskopischen Welt. Strukturen und Prozesse in diesen Dimensionen zu verstehen und die Erkenntnisse anwendungsnah umzusetzen, ist das Ziel des Forschungsschwerpunkts »Nanowissenschaften und Oberflächenforschung« (Kiel Nano, Surface and Interface Science – KiNSIS) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). In einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Physik, Chemie, Ingenieurwissenschaften und Life Sciences könnten daraus neuartige Sensoren und Materialien, Quantencomputer, fortschrittliche medizinische Therapien und vieles mehr entstehen. www.kinsis.uni-kiel.de
Pressekontakt:
jsiekmann@uv.uni-kiel.de0431/880-4855 Details