Studie zur Kinderverschickung nach Sankt Peter-Ording

Schmaler Grat zwischen subjektiver Wahrnehmung und Wissenschaft

Ausreichend Essen und gute Luft: Zuteil werden sollten diese angenehmen Dinge den sogenannten Verschickungskindern, die nach dem Kriegsende und darüber hinaus noch mehr als vier Jahrzehnte meist für drei bis sechs Wochen „Kinderkuren“ in speziellen Heimen verbrachten. Viele Betroffene erinnern sich heute aber nicht an liebevolle Fürsorge, sondern an Essenszwang, körperliche Züchtigung, Erniedrigung oder verschiedene Formen der Bloßstellung. Eine interdisziplinäre Studie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) untersuchte nun bezogen auf den Fall der Gemeinde St. Peter-Ording, was es damit auf sich hat.

Die Zahl der in Kuren verschickten Kinder von 1945 bis 1990 wird nach unterschiedlichen Berechnungen für Deutschland auf sechs bis acht Millionen oder mehr geschätzt. „In sehr, sehr vielen Familiengeschichten taucht dieses Kapitel auf“, sagt der Soziologe Prof. Peter Graeff, der das Phänomen zusammen mit dem Historiker Dr. Helge-Fabien Hertz fürs Gebiet der Gemeinde St. Peter-Ording erforscht hat. In dem Nordsee-Ort gab es einst etwa 50 Erholungsheime. Die Forscher schätzen, dass ungefähr 325.000 Kinder und Jugendliche dort auf Kur waren. Das sind zwar beträchtliche Zahlen, aber dennoch weisen Graeff und Hertz darauf hin, dass ihre Untersuchung allein für St. Peter-Ording gilt und sich nicht allgemein übertragen lässt. Die Ergebnisse der Analyse eignen sich zudem weder von der Menge noch vom Inhalt her für vorschnelle Interpretationen. Historiker Hertz wertete mehr als 1.000 Seiten Überlieferungsmaterial aus fünf verschiedenen Archiven aus, Soziologe Graeff etwa 450 Datensätze und führte darüber hinaus Interviews mit ehemals verschickten Kindern und ebenso mit Beschäftigten der Einrichtungen.

Damalige Behandlungsmethoden belastend für Betroffene

Häufig sind bei den Interviews mit Betroffenen Erlebnisse von seelischer Gewalt geschildert worden. Dazu gehören Beschimpfungen, Nichtbeachtung, Bloßstellen, Vorführen, Herabsetzen oder Verbote. Sehr selten war die Rede von sexualisierter Gewalt oder Arbeitszwang. Doch können die Berichte nach Angaben der Autoren nicht belegen, dass es systematische Gewaltanwendungen etwa aus sadistischen oder ideologischen Beweggründen gab.„Selbstverständlich schenken wir den Darstellungen der Betroffenen Glauben“, betont Dr. Hertz – und verweist zugleich darauf, dass diese Berichte in den historischen Zusammenhang eingeordnet werden müssen. Körperliche Züchtigung zum Beispiel habe bis weit in die Nachkriegszeit als selbstverständliches Mittel der Erziehung gegolten: „Das gab es in den Familien genauso wie in den Schulen oder eben in den Kinderkurheimen.“

Der in den Gesprächen häufig genannte Essenszwang war laut Professor Graeff unterdessen zumeist mit medizinisch begründeten Absichten verbunden. Kinder, die als zu dünn galten, sollten nach damaliger Auffassung notfalls auch unter mehr oder weniger ausgeprägtem Druck gestärkt werden. Und damit die aufgenommenen Kalorien verwertet werden konnten, galt nach der Mittagsmahlzeit eine strikte zweistündige Ruhepflicht. „Auch das wurde von den Kindern, die ja einen natürlichen Bewegungsdrang haben, oft als Qual empfunden“, sagt der Soziologe. Dazu Helge-Fabien Hertz: „Viele der damaligen Methoden würde heute niemand mehr anwenden, das ist völlig klar. Aber diese Methoden entsprangen eben oft eher dem damaligen Zeitgeist als auf Erniedrigung oder Misshandlung ausgerichteten Absichten und Strukturen.“ Auch das üblicherweise praktizierte Kontaktverbot zu den Eltern, das heute als eine Form von seelischer Gewalt betrachtet wird, hat aus Sicht der damals Handelnden dazu dienen sollen, dem Heimweh entgegenzuwirken.

In den zahlreichen Akten aus unabhängig voneinander geführten Archiven hat Hertz ebenfalls keine Nachweise für systematische Gewalt gefunden. Beispielsweise wurden Beschwerden von Eltern in den Akten der Jugendämter grundsätzlich vermerkt, es fanden sich aber kaum welche. Auf der anderen Seite steht für die Forscher außer Zweifel, dass viele Betroffene das Erlebte als belastend empfunden haben. Graeff und Hertz wollen auch unter diesem Gesichtspunkt weiter forschen entlang des schmalen Grats zwischen subjektiven Wahrnehmungen und wissenschaftlichen Einordnungen.

Text: Martin Geist

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