Geologische Bohrmission im Inneren der Westantarktis
Internationales Forschungsteam mit Kieler Wissenschaftlerin untersucht Stabilität des Eisschildes in einer 2°C wärmeren Welt
Am 16. November bricht ein internationales Team von Forschenden und Bohrfachleuten von Christchurch, Neuseeland, aus in die Antarktis auf, um bis zu 200 Meter tief in den Meeresboden des Ross-Schelfs zu bohren. Das Team will geologische Aufzeichnungen über sich verändernde Ablagerungen gewinnen, welche die Umweltbedingungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in einer wärmeren Welt als heute widerspiegeln. Die Forschenden erhoffen sich wichtige Erkenntnisse über die Vergangenheit der Westantarktis und damit mehr über den potenziellen zukünftigen Beitrag der Antarktis zum Anstieg des Meeresspiegels.
Zum wissenschaftlichen Leitungsteam des Projektes gehört Professorin Denise Kulhanek von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), die von Dezember bis Januar auch mit in der Antarktis sein wird. Die Mikropaläontologin wird die gewonnenen Sedimentkerne auf ihre elementaren Bestandteile untersuchen und sie mit ihrer Umgebung wie etwa dem offenen Ozean oder dem Schelfeis in Beziehung setzen. Die Analysen können dazu beitragen, die vergangenen Veränderungen der Ozeanbedingungen und der Ausdehnung des westantarktischen Eisschildes zu verstehen.
Umweltinformationen für zukünftige Vorhersagen
Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass der sich erwärmende Südliche Ozean das Schmelzen von weiten Teilen des Westantarktischen Eisschildes (WAIS) beschleunigen wird – auch heute schon, als Konsequenz der bisherigen Treibhausgas-Anreicherung in der Atmosphäre.
Bei kompletter Schmelze enthält der WAIS genug Eis, um den Meeresspiegel um bis zu fünf Meter ansteigen zu lassen. Doch noch ist nicht sicher, wie viel und wie schnell das Eis der Westantarktis schmelzen wird. Während Teile des WAIS sehr anfällig zu sein scheinen, bleibt unklar, wann und unter welchen klimatischen Bedingungen die großen Schelfeisflächen, die das Inlandeis stabilisieren, verloren gehen. Um hierauf Antworten zu finden, braucht es Sedimente aus Regionen nahe dem Zentrum der Westantarktis, die während vergangener Zeiträume, die wärmer waren als heute, abgelagert wurden. Diese Sedimente enthalten Umweltinformationen, die für die Vorhersagen von entscheidender Bedeutung sind, aber bisher nicht zugänglich waren.
„Wir wissen mehr über die Gesteine und die Zusammensetzung des Mondes als über das Land unter dem westantarktischen Eisschild“, sagt Mikropaläontologin Denise Kulhanek von der Uni Kiel, eine der leitenden Wissenschaftlerinnen des internationalen Forschungsprojekts „Sensitivity of the West Antarctic Ice Sheet to Two Degrees of Warming“ (SWAIS 2C). Seit der ersten Landung im Jahr 1969 haben Astronauten über 2.400 Gesteins- und Mineralproben von verschiedenen Stellen des Mondes entnommen. Unter der Eisdecke der Westantarktis gibt es jedoch nur 13 Stellen, an denen Forschende geologische Proben gesammelt haben. In SWAIS 2C soll nun ermittelt werden, ob das Ross-Schelfeis und der westantarktische Eisschild abschmelzen könnten, wenn die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde 2°C über den Werten vorindustrieller Zeit liegt.
„Im Pariser Abkommen haben wir uns verpflichtet, die globalen Durchschnittstemperaturen deutlich unter 2°C im Vergleich zu vorindustriellen Bedingungen zu halten. Modelle sagen uns, dass der Westantarktische Eisschild zusammenbrechen wird, sobald dieser Wert überschritten wird. Bislang lässt sich dies jedoch nicht bestätigen – einfach deshalb, weil wir noch keine fundierten geologischen Beweise haben, die es erlauben würden, das Verhalten des Eisschildes in vergangenen Warmzeiten zu definieren“, sagt Johann P. Klages, Meeresgeologe am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) sowie deutscher Ko-Koordinator und Mitglied des SWAIS 2C-Wissenschaftsteams.
Aufwändige Probennahme durch Eis und den Ozeanboden
Um mehr über den potenziellen Beitrag der Antarktis zum Anstieg des Meeresspiegels zu erfahren, wird ein Team von Fachleuten für Bohrungen, Ingenieurswesen und Forschung circa 800 Kilometer zum südöstlichen Rand des Ross-Schelfeises reisen. Dort werden sie bis zu 200 Meter tief in den Meeresboden bohren, um geologische Aufzeichnungen über sich verändernde Ablagerungen zu gewinnen, welche die Umweltbedingungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung widerspiegeln. Die Hoffnung ist, dass diese Aufzeichnungen wichtige Erkenntnisse über die Vergangenheit der Westantarktis und die Zukunft unserer Erde liefern.
„Wir werden ein speziell angefertigtes Heißwasserbohrgerät verwenden, um ein Loch mit einem Durchmesser von 35 Zentimetern durch 590 Meter dickes Eis zu schmelzen, um dann durch 50 Meter Ozeanwasser an die Stelle zu gelangen, wo der Eisschild sich von seinem Bett gelöst hat und neuen Ozeanboden geschaffen hat“, sagt Andreas Läufer, Geologe an der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) sowie deutscher Koordinator und Mitglied des SWAIS 2C-Wissenschaftsteams.
„Dort werden wir dann ein spezielles Sedimentkernbohrsystem über dem Loch positionieren, ein Hohlbohrsystem auf den Meeresboden absenken und in die Tiefe bohren, um hoffentlich lange Sedimentaufzeichnungen aus der Vergangenheit der Westantarktis zu erhalten“, sagt Darcy Mandeno vom Antarctic Research Centre in Wellington, Neuseeland, Leiterin der Bohrarbeiten für SWAIS 2C. Die Feldarbeiten in der Antarktis werden im November 2023 auf dem Kamb-Schelfeis starten und bis Januar 2024 andauern. Eine zweite Untersuchungsperiode im Feld wird im November 2024 am Crary-Eisrand beginnen.
Über das SWAIS 2C-Projekt
Mehr als 120 Personen aus rund 35 internationalen Forschungseinrichtungen aus zehn Ländern arbeiten am SWAIS 2C-Projekt mit, darunter etwa 25 Nachwuchsforschende. SWAIS 2C knüpft an andere erfolgreiche internationale Antarktisforschungsprogramme wie ANDRILL an. Die Arbeiten werden vom Natural Environment Research Council, dem Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), der National Science Foundation (NSF-2035029, 2034719, 2034883, 2034990, 2035035 und 2035138), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (KU 4292/1-1, MU 3670/3-1, KL 3314/4-1), dem Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia, dem Korea Polar Research Institute, dem National Institute of Polar Research, der Antarctic Science Platform (ANTA1801), dem Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik, AuScope und dem Australian and New Zealand IODP Consortium unterstützt.
Das Projekt ist das erste Internationale Kontinentale Wissenschaftliche Bohrprojekt (ICDP) in der Antarktis. Die Gesamtkosten des Projekts für Betrieb und Logistik belaufen sich auf 5,4 Millionen US-Dollar. Das AWI und die BGR tragen gemeinsam etwa 10% zur Realisierung des Projektes bei. Das AWI ist wissenschaftlich vertreten durch Johann Klages, Juliane Müller, Karsten Gohl und Olaf Eisen und die BGR durch Andreas Läufer und Nikola Koglin. Von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ist Denise Kulhanek Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsteams. Vor ihrer Berufung an die CAU war Kulhanek mehr als acht Jahre lang Wissenschaftlerin beim Integrated Ocean Drilling Program/International Ocean Discovery Program (IODP).
Logistische Unterstützung wird von Antarctica New Zealand (K862A-2324, K862A-2425) in Zusammenarbeit mit dem United States Antarctic Program bereitgestellt. Die Bohrungen werden durch das ICDP finanziert und unterstützt. Der Projektleiter von SWAIS 2C ist GNS Science und der Bohrdienstleister ist Te Herenga Waka-Victoria University of Wellington.
Hintergrundinformationen zur Forschung in der Antarktis
Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde hat sich seit der industriellen Revolution (1850) um 1,2 °C erwärmt, was auf menschliche Aktivitäten wie der Verbrennung von fossilen Brennstoffen (Kohle, Öl und Erdgas) zurückzuführen ist. Gleichzeitig ist der Meeresspiegel weltweit um durchschnittlich 20 cm gestiegen, was in erster Linie auf die Ausdehnung des Ozeans bei der Wärmeaufnahme und das Abschmelzen der Gletscher, Landeiskappen und Eisschilde unseres Planeten zurückzuführen ist. Bis zum Jahr 2100 ist mit einer weiteren Erwärmung von 1,4 bis 4,4 °C zu rechnen - das Ausmaß des Anstiegs hängt davon ab, welche sozioökonomischen Entscheidungen die Gesellschaft bezüglich ihrer Treibhausgasemissionen trifft. Ein zusätzlicher Anstieg des Meeresspiegels um 30 cm ist unabhängig von unseren Emissionsentscheidungen unvermeidlich, aber der Anstieg kann bis zu 1 oder 2 m betragen, wenn wir einen Weg mit hohen Emissionen einschlagen und mögliche Instabilitäten in den Eisschilden der Antarktis zum Tragen kommen.
Wie empfindlich die großen Schelfeise der Antarktis - und die dahinterliegenden Eisschilde - auf eine Erwärmung zwischen 1,5° und 2°C reagieren, ist ein Schlüsselelement der Forschung, das dazu beitragen wird, besser vorherzusagen, wann und wie stark die polaren Eisschilde schmelzen könnten.
Die Wissenschaft kann in der erdgeschichtlichen Vergangenheit nach Antworten auf diese wichtige Frage suchen. Geologische Rekonstruktionen aus der ganzen Welt zeigen, dass der Meeresspiegel während des letzten Interglazials vor etwa 125.000 Jahren sechs bis neun Meter höher lag als heute. Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde war zu dieser Zeit 1-1,5 °C wärmer als in der vorindustriellen Zeit. Diese Daten deuten darauf hin, dass Teile oder der gesamte Westantarktische Eisschild zusammengebrochen sein könnten, was auf eine potenzielle Empfindlichkeit gegenüber Temperaturen hinweist, die wir bereits erreicht haben und im kommenden Jahrzehnt mit Sicherheit erreichen werden. Ziel dieses Projekts ist es, robuste, direkte Beweise für einen möglichen Eisschildzusammenbruch unter verschiedenen Umweltbedingungen zu erhalten.
Professorin und Mikropaläontologin Denise Kulhanek von der Uni Kiel ist Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsteams des SWAIS 2C-Projektes wird von Dezember bis Januar die Expedition in der Antarktis begleiten.
Früheres Expeditionslager auf dem Kamb-Schelfeis in der Westantarktis. Von November 2023 bis Januar 2024 wird ein internationales Forschungsteam und Bohrfachleuten Sedimentproben ziehen und dazu bis zu 200 Meter tief in den Meeresboden des Ross-Schelfs bohren.
Weiterführende Informationen:
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Denise Kulhanek
Institut für Geowissenschaften
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)
denise.kulhanek@ifg.uni-kiel.de
0431/880-2924
Über Kiel Marine Science (KMS)
Kiel Marine Science (KMS) ist das Zentrum für interdisziplinäre Meereswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). KMS bildet die organisatorische Einheit für alle natur-, geistes- und sozialwissenschaftlich arbeitenden Forscherinnen und Forscher, die sich mit den Meeren, Küsten und den Einfluss auf die Menschheit beschäftigen. Die Expertise der Gruppen kommt beispielsweise aus den Bereichen der Klimaforschung, der Küstenforschung, der Physikalischen Chemie, der Botanik, aus der Mikrobiologie, der Mathematik, der Informatik, der Ökonomie oder aus den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Insgesamt umfasst KMS über 70 Arbeitsgruppen an sieben Fakultäten und aus über 26 Instituten. Gemeinsam mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft arbeiten sie weltweit und transdisziplinär an Lösungen für eine nachhaltige Nutzung und den Schutz des Ozeans.
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