Kieferformen verschiedener Hai-Arten gewähren Einblick in die Evolutionsbiologie

Haie kommen in großer Vielfalt im Ozean vor. Der weiße Hai mit seiner charakteristischen Rückenflosse, dem großen kegelförmigen Maul und den spitzen, scharfen Zähnen ist nur eine von mehr als 500 heute lebenden Hai-Arten. Je nach Lebensweise unterscheiden sich die Arten in ihren Körpermerkmalen. Wie die Form des Kiefers mit dem Lebensraum, der Größe, der Ernährung und weiteren Faktoren zusammenhängt, hat eine internationale Studie mit Beteiligung von Professorin Christine Böhmer vom Zoologisches Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) untersucht. Die Ergebnisse wurden vor Kurzem in der Fachzeitschrift Communications Biology veröffentlicht. Sie zeigen: Bei den am meisten verbreiteten Hai-Arten weisen die Unterkiefer über Millionen Jahre hinweg nur relativ geringe Formschwankungen auf; große Unterschiede fanden sich vor allem bei Tiefseehaien.

Die Studie stand unter der Leitung von Dr. Faviel A. López-Romero von der Universität Wien. Neben der CAU waren auch das Imperial College London, UK, das Muséum national d'histoire naturelle, Paris, Frankreich und das Naturalis Museums, Leiden, Niederlande, beteiligt. Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig die Beute, die Position in den Nahrungsnetzen und der Lebensraum für die Vielfalt der Kieferform bei Haien sind. Dies trägt auch dazu bei, die evolutionären Ursachen für die Unterschiede in der Kiefermorphologie im Zusammenhang mit den Lebensräumen aufzudecken.

Haie bewohnen alle Meereslebensräume

Die heute lebenden Haie haben eine lange Evolutionsgeschichte, die bis zu 180 Millionen Jahre zurückverfolgt werden kann. Während dieser Zeit waren sie ein wichtiger Bestandteil mariner Nahrungsnetze und besetzten hauptsächlich höhere Positionen in der Nahrungskette als Meso- und Spitzenprädatoren. Gleichzeitig haben Haie viele Lebensweisen und Formen entwickelt, es gibt zum Beispiel Bodenbewohner, schnelle Schwimmer im offenen Meer und sogar einige der kleinsten Arten in der Tiefsee.

Der Kiefer von Haien ist perfekt auf dessen Ernährungs- und Lebensweise angepasst. „Die Form des Unterkiefers kann als Indikator für die Lebensweise der Haie verwendet werden, da sie – neben anderen Faktoren – mit seiner Funktion zusammenhängt. Der Kieferapparat eines Tieres, das beispielsweise harte Nahrung frisst, ist anders aufgebaut, als bei einem Tier, das Plankton filtriert“, erklärt Co-Autorin Christine Böhmer, Professorin und Leiterin der Arbeitsgruppe „Zoologie und Funktionsmorphologie der Vertebraten“ an der CAU. Ob aus der Kieferform auf den Lebensraum und Lebensstil geschlossen werden kann, in dem sich die Tiere entwickelt haben, wurde in der Studie anhand quantitativer Analysen von Computertomographie-Scans und dreidimensionalen Unterkiefermodellen geprüft. „Wir haben von 90 heute existierenden Hai-Arten die 3-D-Modelle der Unterkiefer mittels der sogenannten geometrischen Morphometrie verglichen“, sagt Böhmer, die sich mit dieser speziellen Technik zur Vermessung von Skelettteilen besonders gut auskennt. Bei dieser Methode wird mit spezieller Software eine Vielzahl von digitalen Messpunkten, sogenannte „landmarks“, auf dem Unterkiefer platziert, um dessen Gestalt in seiner Gesamtheit zu erfassen. Anschließend lässt sich die über „landmarks“ erfasste Kieferform über statistische Verfahren mit anderen Formen vergleichen. „Traditionell würde man einen Knochen nach Länge, Breite und ähnlichem vermessen. Mit der Landmark-Analyse hat man viel mehr Informationen, weil man mehr Variablen von der Form eines Objekts aufnehmen kann, ähnlich wie beispielsweise bei der Gesichtserkennung“, erklärt die Kieler Paläobiologin vom Forschungsschwerpunkt Kiel Life Science (KLS) der CAU.

Tiefseehai-Unterkiefer weisen größte Formenvielfalt auf

Die Ergebnisse zeigen überraschenderweise, dass bei sehr artenreichen Gruppen wie den Requiemhaien die Kiefer nur geringe Formschwankungen aufweisen. Dies ist interessant, da Requiemhaie zu den am weitesten verbreiteten Haien gehören. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass die meisten variablen Kiefer bei Arten gefunden wurden, die in der Tiefsee leben. „Obwohl Tiefseehaie in den Daten nicht so zahlreich wie Riffhaie vertreten sind, weisen sie in unserer Analyse die größte Formenvielfalt auf", erklärt Erstautor Dr. Faviel A. López-Romero vom Institut für Paläontologie der Universität Wien.

Haie, die in der Tiefsee leben, sind an verschiedenste Nahrungsstrategien angepasst, die vom reinen Verschlingen großer Stücke von Walen bis hin zum Fressen von Eiern reicht, wobei viele Tiefseehaie sich von Kopffüßern ernähren. Bei den meisten Arten, die in Riffen leben, und den großen Spitzenräubern im offenen Meer scheinen die Möglichkeiten begrenzt zu sein, so dass die meisten hauptsächlich Fische und sogar andere Hai-Arten fressen. „Natürlich ernähren sich viele Haie in diesen Lebensräumen von einer großen Vielfalt an Beutetieren, und nur wenige haben sich an eine einzige, spezifische Beute angepasst ", erklärt Co-Autor Professor Jürgen Kriwet von der Universität Wien.

Die Studie zeige auch, so Christine Böhmer: "Die Tiefsee ist eine wichtige Quelle für die Biodiversität bei Haien. Neue Arten entstehen nicht nur im küstennahen Flachwasser, wie eine klassische Hypothese besagt, sondern auch in der Tiefsee."

zur OriginalpublikationZur Arbeitsgruppe an der Uni Kiel Zur Arbeitsgruppe an der Uni Wien

Wissenschaftlicher Kontakt Uni Kiel:

Prof. Christine Böhmer
Arbeitsgruppe „Zoologie und Funktionsmorphologie der Vertebraten“
Leitung Zoologisches Institut, CAU
0431/ 880-4507
cboehmer@zoologie.uni-kiel.de

Wissenschaftlicher Kontakt Uni Wien:

Dr. Faviel A. Lopez Romero
Institut für Paläontologie
Arbeitsgruppe “Evolutionäre Morphologie”
Universität Wien, Österreich
faviel.l.r@gmail.com


Prof. Jürgen Kriwet
Institut für Paläontologie
Arbeitsgruppe “Evolutionäre Morphologie”, Leitung
Universität Wien, Österreich
juergen.kriwet@univie.ac.at

Ein weißer Hai schwimmt im Ozean
© Foto von Gerald Schömbs auf Unsplash

Der bis zu sechs Meter lange Tigerhai kommt weltweit in tropischen, subtropischen und warm gemäßigten Meeren vor.

Blick ins Maul des Schlinghais
© Manuel Staggl

Blick ins Maul des Schlinghais (Centrophorus granulosus), der sich bevorzugt am Meeresboden der Kontinentalhänge in Tiefen von 100 bis 1400 Metern aufhält.

Eine Übersicht verschiedener Kieferformen von Hai-Arten
© Sebastian Stumpf, Universität Wien

3D-Rekonstruktionen der Unterkiefer von Hai-Arten, die in der Studie analysiert wurden.

Portraitfoto einer Frau
© Christina Kloodt, Uni Kiel

Professorin Christine Böhmer forscht über Form und Funktion bei Wirbeltieren und ist Expertin für die geometrische Morphometrie, eine moderne Technik zur 3-D-Vermessung von Skelettteilen.

Über Kiel Life Science (KLS)

Das interdisziplinäre Zentrum für angewandte Lebenswissenschaften – Kiel Life Science“(KLS) – vernetzt an der CAU Forschungen aus den Agrar- und Ernährungswissenschaften, den Naturwissenschaften und der Medizin. Es bildet einen von vier Forschungsschwerpunkten an der Universität Kiel und will die zellulären und molekularen Prozesse besser verstehen, mit denen Lebewesen auf Umwelteinflüsse reagieren. Im Mittelpunkt der Forschung stehen Fragen, wie sich landwirtschaftliche Nutzpflanzen an spezielle Wachstumsbedingungen anpassen oder wie im Zusammenspiel von Genen, dem individuellen Lebensstil und Umweltfaktoren Krankheiten entstehen können. Gesundheit wird dabei immer ganzheitlich im Kontext der Evolution betrachtet. Unter dem Dach des Forschungsschwerpunkts sind derzeit rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 40 Instituten und sechs Fakultäten der CAU als Vollmitglieder versammelt.

Zu Kiel Life Science (KLS)

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Christian Urban
Referent für Wissenschaftskommunikation