Zeichen des Erinnerns

Akademische Feier zur Mahnung gegen Krieg und Gewaltherrschaft am 15. November 1993

Zum Gedenken der im Nationalsozialismus vertriebenen Persönlichkeiten und Wissenschaftler stand die Akademische Feier der Universität Kiel zum Volkstrauertag 1993 im Zeichen des Erinnerns. Die damalige Rektorin, Karin Peschel, nahm die Feier zum Anlass, die moralische Position der CAU zum Ausdruck zu bringen. Sie erklärte die von der CAU zwischen 1936 und 1945 politisch motivierte Aberkennung der Doktorgrade für nichtig.

Karin Peschel

Karin Peschel: Erklärung zur Aberkennung der Doktorgrade (1993)

"Ich bin überzeugt, dass man die Gegenwart nicht sehen kann, wenn man vor der Vergangenheit die Augen verschließt."

 
Portrait Dieter Harms

Dieter Harms: Ansprache (1993)

"Das alles war und ist nicht 'wieder gut zu machen', deshalb ist der bilanzierende Terminus 'Wiedergutmachung' auch wenn er in bester Absicht verwendet wird, verharmlosend."

 

Ins NS-Euthanasieprogramm verstrickt: Der Mediziner Werner Catel (Stellungnahme des Senats vom 14.11.2006)

Lange wurde darüber diskutiert, wie mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des ehemaligen Leiters der Kinderklinik, Professor Werner Catel, umgegangen werden sollte. Am 14. November 2006 hat sich der Senat auf einen gemeinsamen Text geeinigt, der neben dem Professorenporträt im Flur der Klinik hängen soll:

"Professor Dr. med. Werner Catel war 1933-1945 Direktor der Universitäts-Kinderklinik Leipzig. In den Kriegsjahren 1939-1945 war er einer der drei Gutachter im "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leidens", der Tarnorganisation für die systematische Tötung von Tausenden schwer geschädigter Kinder und Jugendlichen ("Kindereuthanasie"). Unter dem Deckmantel der Humanität ("Leidminderung") wurden dort die Meldung und Vernichtung "unwerten Lebens" gerechtfertigt.

Nach dem Krieg wurde Catel als "entlastet" eingestuft. Zwei Strafverfahren gegen ihn wurden eingestellt: Das Landgericht Hamburg hat 1949 die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt, da es nicht erkennen konnte, dass die "Verkürzung lebensunwerten Lebens eine Maßnahme genannt werden [könne], welche den allgemeinen Sittengesetz widerstreite". Das zweite Verfahren wurde 1964 vom Landgericht Hannover "außer Verfolgung" gesetzt, weil Catel der Überzeugung gewesen sei, das Beste für die betroffenen Kinder zu tun, Totschlag, im Gegensatz zu Mord, aber nach 15 Jahren verjährt sei.

1954 wurde Catel nach Kiel berufen, 1960 trat er auf Druck der Öffentlichkeit zurück.

Catel wurde als engagierter klinischer Lehrer wahrgenommen, war Verfasser mehrerer Monographien über Übernahrung und Tuberkulose, Herausgeber von Werken über Pädiatrische Differentialdiagnostik und Kinderkrankenpflege.

Die Verantwortlichen der Kinderklinik, die Medizinische Fakultät und die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verurteilen Catels Mittäterschaft an der "Kindereuthanasie". Die Berufung auf einen Lehrstuhl der Kieler Universität ist nicht zu rechtfertigen, wenn auch offen bleiben muss, inwieweit damals den Berufenden die Verstrickung Catels in die "NS-Kindereuthanasie" bekannt war. Es gehört zu den elementaren ethischen Grundsätzen des Arztberufes, menschliches Leben zu schützen und nicht zu töten."

Chirurgische Klinik
© gemeinfrei. Quelle: Stadtarchiv Kiel, Fotograf: Hermann Edlefsen 73680; 27.777

Chirurgische Klinik in der Michaelisstraße 5, um 1905.

 

Literaturangaben

Petersen, Hans-Christian / Zankel, Sönke: "Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen mal absieht" – Werner Catel und die Vergangenheitspolitik der Universität Kiel, in: Hans Werner Prahl / Hans-Christian Petersen / Sönke Zankel (Hrsg.): Die Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel un der Nationalsozialismus, Band 2, Kiel 2007, S. 133-178.

Andree, Christian: Die Universitätskinderklinik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1906-2006: Eine medizinhistorische Studie zum hundertjährigen Bestehen. Kiel 2006 [S. 171-208 zu "Werner Catel (1894-1981). Seine Verstrickungen in das Kindereuthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Gedanken, Taten und Folgen"].

Philipp Eduard Anton Lenard – Nobelpreisträger für Physik und Nationalsozialist

Der Experimentalphysiker und Nobelpreisträger gilt als einer der zwiespältigsten Wissenschaftler in der Geschichte der Kieler Universität. Einerseits ein hochkarätiger Forscher, andererseits ein verbitterter Egozentriker und leiden- schaftlicher Nationalsozialist.

Philipp Eduard Anton Lenard wird 1862 im österreich-ungarischen Preßburg (heute: Bratislava/Slowakei) als Sohn eines Weinhändlers geboren. Nach dem Studium der Naturwissenschaften in Budapest und Wien sowie der Physik in Berlin und Heidelberg promoviert Lenard 1886 in Heidelberg. 1891 geht er als Assistent nach Bonn zu Heinrich Hertz, wo er sich auch habilitiert. Hier führt er bereits Experimente zur Untersuchung der Kathodenstrahlen durch, die ihm später die höchste Auszeichnung bringen sollen.

1898 kommt Lenard nach Kiel. Als Leiter baut er hier ein neues physikalisches Institut auf. Charlotte Schmidt-Schönbeck zitiert seine Beweggründe in ihrem Buch über die Geschichte der Physik an der Kieler Universität: "Ich dagegen war entschlossen, mit vollkommener Rücksichtslosigkeit vorzugehen, da ich den Ruf überhaupt nur angenommen hatte, um endlich uneingeschränkt und hindernislos zu einer vollausgerüsteten Arbeitsstätte zu kommen. Ich hatte als Assistent und als zweiter Physiker lange genug alles zugegeben, um es den mir Übergeordneten so angenehm wie möglich zu machen; jetzt forderte ich das für mich."

Die neun Jahre in Kiel gehören zu Lenards produktivsten: Hier entdeckt er 1900 die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten des lichtelektrischen Effekts. Er entwickelt das "Dynamidenmodell" des Atoms – ein Vorläufer moderner Atommodelle. Es besagt, dass der größte Teil des Atoms leer ist. Schließlich bekommt er 1905 für "wichtige Arbeiten zu den Kathodenstrahlen" den Nobelpreis für Physik verliehen. 1907 wechselt Lenard als Direktor des Instituts für Physik und Radiologie nach Heidelberg.

Während er zu seiner Zeit in Kiel "an politischen Dingen kein Interesse zeigte", so Schmidt-Schönbeck, ändert sich das schlagartig mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Als schließlich auch Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt, entzündet das in ihm einen lang gehegten persönlichen Hass gegen einen englischen Forscherkollegen: Er kann nicht verwinden, dass Joseph John Thomson 1897 seine Arbeiten zu den Kathodenstrahlen veröffentlicht hat, ohne Lenards Vorleistungen auch nur zu erwähnen. Den Ersten Weltkrieg sieht er als Kampf zwischen "deutscher Kultur" und "westlicher Zivilisation". Seiner vaterländischen Begeisterung folgt der Schock durch die deutsche Kapitulation 1918, der seinen Nationalismus und Antisemitismus verschärft. Lenard hält die experimentelle Physik für eine "nordische Wissenschaft", die dem "jüdischen Weltbluff" der theoretischen Physik überlegen sei.

Nach dem Ersten Weltkrieg sondert sich Lenard zusehends ab, sowohl fachlich als auch menschlich. Er findet keinen Zugang zu den modernen Erkenntnissen der Physik und lehnt auch Einsteins Relativitätstheorie ab, nicht zuletzt auf Grund antisemitischer Vorurteile. 1920 auf der Naturforscher-Versammlung in Bad Nauheim greift er Albert Einstein öffentlich an und tritt schließlich aus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft aus. Schon 1924 bekennt er sich in dem Aufruf "Hitlergeist und Wissenschaft" offen zu Hitler.

Nachdem Lenard 1930 in den Ruhestand getreten ist, beschäftigt er sich vornehmlich aus historischer Sicht mit der Entwicklung physikalischer Gesetze. Er veröffentlicht das mehrbändige Lehrbuch "Deutsche Physik". Sein Urteil über physikalische Leistungen ist von seiner politischen Haltung geprägt: Er vertritt die Auffassung, wahre Naturerkenntnis könne nur von der "arischen Rasse" gewonnen werden. Einsteins Arbeiten seien dem gegenüber "Judenbetrug". Lenard, der bereits sein Heidelberger Institut zu einem "judenfreien" Zentrum der politischen Rechten gemacht hatte, gelangt zu nationalsozialistischen Ehren. Während der Nazizeit erklärt er alle Vertreter der modernen Quantenphysik zu "Statthaltern des jüdischen Geistes im Deutschen Reich" und trägt mit dieser Hetzkampagne dazu bei, dass sie in Deutschland nicht mehr forschen dürfen.

Er verlässt nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit 83 Jahren Heidelberg und zieht ins badische Messelhausen. Die Amerikaner verschonen ihn wegen seines hohen Alters mit Entnazifizierungsmaßnahmen. Lenard stirbt 1947.

Als "Physik der verpassten Gelegenheiten" bezeichnet Schmidt-Schönbeck die Tragik in Lenards Lebenswerk. Für große Forscher – neben Thomson auch für Röntgen und Einstein – legte er mit seinen Experimenten die Grundsteine, zu einer "Lenardschen Schule" reichte es jedoch nie. Sein hasserfüllter Antisemitismus wurde mit zunehmendem Alter ein fataler Weg, seine eigene wachsende wissenschaftliche Rückständigkeit zu verdecken – mit der Folge, dass viele Naturwissenschaftler ihre Lehr- und Forschungstätigkeit in Deutschland beenden mussten. (so)

Aus: Die großen Forscher von der Förde

Philipp Lenard
© Uni Kiel

Philipp Lenard (1862–1947)

Zum Weiterlesen:

Schmidt-Schönbeck, Charlotte. 300 Jahre Physik und Astronomie an der Kieler Universität. Kiel 1965. Deutsche Biographische Enzyklopädie. Alan D. Beyerchen: Wissenschaftler unter Hitler: Physiker im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1982. Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004.

Die Kieler Studentenschaft nach der Wiedereröffnung der Universität im November 1945

Erst seit den 1990er Jahren findet die Geschichte der Westdeutschen Studentenschaften in Form von Monographien Berücksichtigung, nachdem auf sie bis dahin lediglich in Übersichtswerken und im Schatten der "68er-Bewegung" eingegangen worden war. Nunmehr liegen Arbeiten zu den Studentenschaften Münsters, Braunschweigs, Hamburgs und Kölns vor, in die sich die Untersuchung der Kieler Verhältnisse einreiht.

Grundlegende Charakteristika auch für das Leben der Kieler Studierenden war zunächst die dramatisch schlechte Ernährungslage sowie besonders in der stark zerstörten Stadt Kiel der eklatante Wohnraummangel. Dies waren die Hauptaufgabenfelder des wieder gegründeten Studentenwerks.

In diesen Rahmenbedingungen traten die in jener Zeit typischen Konflikte um die Zulassung zum Studium zu Tage: Die Fragen nach der schulischen Vorbildung und den politischen Vorraussetzungen, sowie vor allem die Diskussionen über den durch die Besatzer festgelegten Numerus clausus, beides Brennpunkte der über Jahre hinweg andauernden Streitigkeiten zwischen Studierenden, Hochschulleitung und Militärregierung. Diese Konflikte blieben bis zur Währungsreform dominierend, verloren dann aber auf Grund der schwierigen Finanzlage an Bedeutung, da sich die Zahl der Studienbewerber etwa halbierte.

Einhergehend mit einer zunehmenden "Normalisierung" der Verhältnisse traten nun Debatten um das politische und gesellschaftliche Verhalten der Studentenschaft in den Vordergrund. Diese Problematik schwelte bereits seit der Gründung des Kieler AStA (1946), da den äußerst aktiven Studentenvertretern die Masse der politisch untätigen Studierenden gegenüberstand. Die Kieler Studentenzeitungen aus dieser Zeit legen Zeugnis vom schwierigen Verhältnis zwischen Studentenschaft und ihrer Vertretung in jener Zeit ab. Zudem trat aus Sicht der Hochschulleitung trat der Umgang mit den alten Korporationen in den Vordergrund, welche Ende der 40er Jahre zunehmend aktiv wurden und bei denen es sich um "undemokratische Relikte aus der Vergangenheit" handelte.

Die genannten Problemfelder lassen sich auch in den anderen untersuchten Universitätsstädten nachweisen. Insofern stellt die Kieler Studentenschaft trotz einiger regionaler Besonderheiten eine typische Nachkriegsstudentenschaft dar. Die besonderen Aspekte resultieren dabei zumeist lediglich aus der besonderen Flüchtlingssituation Schleswig-Holsteins sowie dem starken Zerstörungsgrad der Stadt Kiel.

Literaturangaben

Woda, Florian: Die Kieler Studentenschaft nach der Wiedereröffnung der Universität im November 1945, Magisterarbeit
Nees, Kerstin: Nachkriegsstudenten. In: Unizeit 39 vom 9.12.2006, S. 5, Nachkriegsstudenten.

"Schleswig-Holstein stellt fest, dass es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat"

Überlegungen zur "Vergangenheitsbewältigung" nach 1945

"Schleswig-Holstein stellt fest, dass es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat". Dieses mittlerweile geflügelte Wort des sozialdemokratischen Oppositionsführers im Kieler Landtag, Wilhelm Käber, soll als Leitmotiv für meinen heutigen Vortrag stehen. Mit ihm kommentierte Käber im Jahre 1951 – sehr sarkastisch und deutlich übertrieben – die im schleswig-holsteinischen Landtag mit aller Energie betriebene Beendigung der sogenannten Entnazifizierung. Sich mit dieser Problematik zu beschäftigen, ist lohnend – aber leider für das Land und seine Menschen nicht immer ruhmreich. Manchmal fällt es sogar schwer, die gebührende Abgewogenheit und Distanz des Historikers zu bewahren. Ich bitte das zu entschuldigen.

Es geht also um die Frage nach der besonderen Affinität sehr vieler Schleswig-Holsteiner zum Nationalsozialismus und um den späteren Umgang mit den zwölf Jahren dieser Herrschaft. Damit steht zugleich die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Geschichte im mittleren Drittel des vorigen Jahrhunderts im Zentrum. Es geht darum, was in der NS-Zeit geschah – und auch schon am Ende der Weimarer Republik – und was nach 1945 geblieben ist. Zu zeigen ist auch, wie wir dieses Geschehen aus heutiger Perspektive, 60 Jahre danach, beurteilen. Das sind berechtigte Fragen, weil gerade dieses nördliche Bundesland – und auch die Landesuniversität – besonders früh und besonders intensiv nationalsozialistisch geworden sind.

Die Schleswig-Holsteiner haben sich 1933 dem Nationalsozialismus mehrheitlich nicht nur duldend ergeben. Die meisten sind nicht in das System hineingeschlittert, sondern sie haben es geradezu herbeigewünscht und es – z.T. begeistert – herbeigeführt, um es dann sehr lange Zeit mehrheitlich mitzutragen. Ein solcher Tag wie heute, an dem bei unseren Freunden in Poznan eine Ausstellung über den "Neuanfang der Universität Kiel nach 1945" eröffnet wird, scheint mir daher ein besonders geeigneter Moment zu sein, kritisch über diese Problematik nachzudenken und zu fragen, wie die Schleswig-Holsteiner – vor allem auch meine Universität – mit dieser "vergangenen Last" umgegangen sind. Ich denke, dass dürfte auch Sie hier in Poznan interessieren.

Ich möchte meine Ausführungen nach folgenden drei Problemkreisen gliedern:

  1. Wie nationalsozialistisch war Schleswig-Holstein? Und wie ist es später damit umgegangen?
  2. Wie beurteilen wir nach über 60 Jahren den Prozess der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und schließlich – ganz knapp –
  3. gab oder gibt es einen "Königsweg" der Problemlösung für solch eine Konstellation, wie es sie 1945 in Schleswig-Holstein gab? Wie hätte man mit den alten Eliten umgehen sollen und wie hätte ein Neuanfang "richtig" gestaltet werden können?

Bei der Beantwortung dieser drei Fragen soll das Land Schleswig-Holstein im Mittelpunkt stehen. Die Kieler Universität wird jedoch gebührend beachtet werden.

Zur kompletten Ansprache von Prof. Karl Heinrich Pohl zur Austellungseröffnung "Neuanfang aus den Trümmern – die Kieler Universität im Jahre 1945" in Poznan/Polen.

 

Zerstörung der Kieler Universität

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kieler Universität fast vollständig zerstört. Die meisten Gebäude der Christiana Albertina lagen in der Innenstadt und wurden bei den Bomben­angriffen stark beschädigt. Besonders schlimm traf es die Universitätsbibliothek, die 1942 von einer Brandbombe getroffen wurde. Ein Großteil der Bücher- und Zeitschriftenbestände fielen dem Feuer zum Opfer. Aber auch die Hauptgebäude wurden zerstört, ebenso ein Großteil der Kliniken und Institute.

Nach dem Kriegsende wurden die Gebäude der ELAC am Westring, einem ehemaligen Rüstungsbetrieb, der Universität zur Verfügung gestellt. Hier und auf Schiffen auf der Förde nahm die Schleswig-Holsteinische Landesuniversität in Kiel bereits ein halbes Jahr nach Kriegsende – genau am 27. November 1945 – ihre wissenschaftliche Arbeit mit zunächst 2500 Studenten wieder auf.  (juz)

Gebäude in Trümmern
Quelle: Stadtarchiv Kiel, Fotograf: unbekannt

Luftangriff auf Kiel am 04. und am 05.01.1944. Das Kollegiengebäude der Christian-Albrechts-Universität im Schlossgarten erhielt mehrere Bombentreffer. Blickrichtung Hegewischstraße.

"Aus den Trümmern – die Kieler Universität im Jahr 1945"

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Am 27. November 1945 kamen Lehrende, Studierende und Verwalter, aber auch Vertreter der Militärregierung, der ersten Länderregierung und der Stadt Kiel in der "Neuen Universität" hier am Westring zusammen, um feierlich – begleitet von den Klängen der Jupiter-Symphonie von Amadeus Mozart – den Neubeginn akademischer Lehre und Forschung an traditionsreicher Stätte auszurufen. In bewegenden und zugleich aufschlussreichen Worten wandte sich der erste, noch von der britischen Militärregierung ernannte Rektor der CAU, der Psychiater Hans Gerhard Creutzfeldt, an die Festversammlung: (Ich zitiere:) "Wie ein Schiffbrüchiger, der wieder ans Land gelangt und festen Boden unter den Füßen fühlt, so erfüllt einen jeden von uns ein Gefühl zutiefst, das ist das der Dankbarkeit." Über 28 Decennien, so führte der erste Nachkriegsrektor weiterhin aus, habe die Schleswig-Holsteinsche Landesuniversität "treulich in Forschung und Lehre zu wirken sich gemüht". Erst die Wirren des Zweiten Weltkriegs habe sie dann gezwungen, die zerstörten Stätten zu verlassen. Jetzt aber, so Creutzfeldt im November 1945, gebe es neue Hoffnung, neues Leben und neues Planen. Und er versprach, man werde sich nun in Ehrfurcht erneut in die "Kette der Wahrheitssucher" einreihen, die von den Vorgängergenerationen aufgebaut und hinterlassen worden sei.

Die von Pathos getragene Rede Creutzfeldts stellte zugleich eine Bilanz und ein Programm dar, bei dem eines sehr deutlich ins Auge sticht. Das ist das dezidierte Bemühen um eine Wiedereinbindung in einen weit zurück reichenden akademischen Traditionsstrang, der den "Schiffbrüchigen" von 1945 auch moralisch wieder Halt verschaffen sollte. Aus diesem Grund sind Creutzfeldts Ausführungen nicht nur aufschlussreich für das, was er sagte, sondern auch für all das, was er ausdrücklich nicht sagte oder benannte. Entweder weil seinen Zuhörern die entsprechenden Probleme ohnehin bekannt waren, oder weil es nicht opportun erschien, Dinge vor den anwesenden Vertretern der britischen Besatzungsmacht zu benennen, die dem Redenden und manchen seiner Kollegen politisch und moralisch noch auf der Seele lagen. Manches aber wurde offensichtlich einfach auch deswegen verschwiegen, weil man es einfach verdrängen wollte. Charakteristisch hierfür ist das Redeende mit dem nivellierenden Gedenken an alle Opfer aus den "letzten Völkerkriegen", "ob Freud, ob Feind". Dass viele dieser Menschen einer verbrecherischen Expansionspolitik zum Opfer gefallen waren, wollte und konnte Creutzfeldt im November 1945 nicht öffentlich sagen. Übrigens ebenso nicht die Gründungsrektoren anlässlich der Wiedereröffnung anderer westdeutscher Universitäten.

Angesichts der hier nur angedeuteten Leerstellen und des Nicht-Gesagten, begreife ich meine heutige Aufgabe dahingehend, in einigen wenigen Zügen die Ursachen und Umstände des vollständigen Zusammenbruchs an der CAU im Jahr 1945 zu skizzieren, um im Anschluss daran die Neuordnungspläne der britischen Besatzungsmacht und ihrer deutschen Mitstreiter vorzustellen. Zuletzt blicken wir auf den Weg von Lehrenden und Studierenden in die Zukunft, die ungeachtet der zunächst düsteren Aussichten für viele tatsächlich unerwartet günstige Aufstiegsmöglichkeiten mit sich brachte und die CAU insgesamt auf eine neue Entwicklungsstufe hob. Kurz gesprochen: wir vollziehen einen Dreisprung (I. - III.), der vom Zertrümmern über das Planen zum Aufbauen führt!

Weiterlesen, Teil I

Blicken wir jedoch zunächst auf die materielle und geistige Trümmerlandschaft in Kiel im Jahr 1945, die sich in erster Linie der zerstörerischen Wirkung der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs verdankte. Trümmer waren es in der Tat, vor allem in der nordwestlichen Zone des untergegangenen Deutschen Reiches, für die die britische Besatzungsmacht endgültig seit dem 5. Juni 1945 mit der Berliner Deklaration der alliierten Siegermächte die Verantwortung übernommen hatte. In diesem Zusammenhang hat man einmal gesagt, dass 1945 die Amerikaner die schöne Landschaft, die Franzosen den Wein und die Briten eben die Ruinen übernommen hätten. Insbesondere für Kiel und für die Christian-Albrechts-Universität trifft diese Beschreibung den zeitgenössischen Sachverhalt recht genau. Denn bekanntlich war die Stadt Kiel im Luftkrieg weitgehend zerstört worden. Rund siebzig Prozent des Gebäude- und Wohnungsbestandes gingen verloren. Kiel wies damit einen Zerstörungsgrad auf, wie er sonst nur in wenigen Städten und Gemeinden des untergegangenen Deutschen Reiches gemessen worden ist. Ähnlich dramatisch fiel die Zerstörung universitärer Gebäude aus. Mehr als sechzig Prozent der universitären Anlagen, die über sieben Jahrzehnte aufgebaut worden waren, lagen nach den Luftangriffen vom Dezember 1943 sowie Januar und Mai 1944 danieder. Ebenso gewichtig wogen die Verluste der Universitätsbibliothek, die rund ein Drittel ihres Bestandes in den Flammen des Bombenkrieges verlor.

Im Grunde aber ist die Universität Kiel nicht erst mit den Angriffen alliierter Bomber untergegangen. Das gilt in einem engerem und einem weiteren Sinne. Denn, erstens, war ein Großteil der Institute und Seminare schon vor Kriegsende an insgesamt achtzehn Ausweichorte in der Provinz Schleswig-Holstein ausgelagert worden. Begonnen hat man damit seit 1942/43. Im Zuge der Auslagerung wanderten beispielsweise ein Großteil der Kliniken und später das Rektorat nach Schleswig, und die Bibliothek für Weltwirtschaft fand eine neue Heimstatt im Ratzeburger Dom. Obwohl Rektor Predöhl noch im September 1944 festhielt, dass "schon aus moralischen Gründen" die Universität ihren Standort in Kiel nicht voreilig verlassen dürfe, hatte sich bereits seit Mitte des Jahres unerbittlich gezeigt: Ein ordnungsgemäßes Studium in Kiel war tatsächlich nicht mehr möglich. Im Wintersemester 1944/45 blieben deswegen nur noch die Medizinstudenten in Kiel; im übrigen ruhten die Vorlesungen. Ohnehin hatte man während des Krieges angesichts der drastisch gefallenen Studierendenzahlen nur mühsam Versuche der nationalsozialistischen Berliner Hochschulpolitik abwehren können, die Universität auf Dauer zu schließen.

Was, zweitens, auf dem Weg der inneren Auszehrung noch weit schwerer wog, war: Viele Angehörige der Universität, sowohl unter den Dozenten als auch den Studierenden, hatten sich seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten an der Selbstzerstörung der besten Traditionen deutscher und internationaler Wissenschaft aktiv beteiligt. "Kiel als Vorkämpferin des deutschen Volkstums und eines deutschen, politisch ausgerichteten Wissens", das war in Kurzform das Programm der nationalsozialistisch ausgerichteten Grenzlanduniversität, das der Mediziner Hanns Löhr vollmundig noch 1942 in seiner Eröffnungsrede anlässlich seiner Übernahme des Rektorats in die Öffentlichkeit getragen hat. Schon seit 1934, so ergänzte Löhr stolz, sei von gleicher Stelle aus wiederholt verkündet worden, dass "die deutsche Wissenschaft ein Produkt ‚ureigenster germanischer Rassenforschung' darstellt, demnach politisch ist im reinsten Sinne des Wortes". Welche Konsequenzen sich daraus für Forschung und Lehre ergaben, zeigen unter anderem die seit 1938 neu aufgelegten "Kieler Blätter". Auch die Jubiläumsreden aus Anlass des 275jährigen Bestehens der CAU im Jahr 1940 verdeutlichen, wie weit quer durch alle Fakultäten und Disziplinen die Durchdringung nationalsozialistischen Gedankenguts bis zu diesem Zeitpunkt bereits vorangeschritten war. Namentlich die Rechtswissenschaften maßten sich den Anspruch zu, eine "Stoßtruppfakultät" abzugeben. Sicher: Zwischen Anspruch und Realität klaffte auch im Nationalsozialismus eine Lücke, und keineswegs die gesamte Professorenschaft hat sich an dem Vorhaben einer vollpolitisierten nationalsozialistischen Universität beteiligt. Dennoch bildete die durchaus willfährige Übernahme rassistischer Ideologeme in Forschung und Lehre sowie die aktive Umsetzung der nationalsozialistischen Hochschulpolitik eines der trübsten Kapitel in der Geschichte der CAU.

Obwohl ich an dieser Stelle nicht weiter auf Einzelheiten eingehen kann, sehe ich mich dennoch ausdrücklich dazu verpflichtet, die Opfer der Vertreibungen und sogenannten "Entpflichtungen" zu benennen. Denn nicht zuletzt unter dem Druck fanatisierter Studenten, hatte die Kieler Universitätsführung schon seit dem Sommersemester 1933 den Umbau des Lehrkörpers zielstrebig vorangetrieben. Als Rektor Paul Ritterbusch 1940 Bilanz zog, wertete er (ich zitiere!) "die Beseitigung aller rassefremden und politisch untragbaren Elemente" sowie die Berufung "neuer, junge Kräfte" ausdrücklich als einen Erfolg der neuen Universitätsführung. Aus den Erhebungen von Professor Uhlig wissen wir, dass bis 1945 insgesamt 48 Mitglieder des Lehrkörpers vertrieben worden sind, unter Einschluss aller Zwangsversetzungen und Wegberufungen. Mit der Vertreibung rund eines Fünftels des Lehrkörpers lag Kiel im Mittelfeld der deutschen Universitäten, wobei jedoch zuletzt nicht die Zahlen wirklich entscheidend sind, sondern jedes Einzelschicksal! Wer darüber mehr erfahren möchte, der kann aus der spröden Sprache der Wiedergutmachungsakten – bis vor wenigen Wochen lagen manche Kopien noch im Keller des Rektorats – die schweren und oft traurig stimmenden Schicksalswege der ins Exil Getriebenen nachvollziehen.

Worauf es mir hierbei ankommt: Als die Gebäude der Kieler Universität zusammenstürzten, hatten viele Lehrende und Studierende sich bereits seit längerem aus der Kette der "Wahrheitssuchenden" herausgelöst und der Politik eines menschenverachtenden Regimes verschrieben. In diesem Sinne existierte tatsächlich am Ende des Krieges keine Institution mehr, die den Namen Universität Kiel verdiente. Sinnbildlich hierfür können wir die abgeschlagenen Köpfe der Statuen am Ende der Freitreppe des Hauptgebäudes begreifen.

Weiterlesen, Teil II

Dass man deren Häupter nach Kriegsende achtlos beseitigte, hinterlässt erneut ein ambivalentes Gefühl. In der unmittelbaren Nachkriegszeit aber waren zunächst nicht länger deutsche Kräfte, sondern die neuen Machthaber, das heißt in erster Linie die britische Besatzungsverwaltung, am Zuge. Eines jedenfalls steht fest: Ohne die baldige Bereitschaft führender Offiziere aus der britischen Bildungsverwaltung zum raschen Wiederaufbau der deutschen Universitäten hätte es hier in Kiel und auch andernorts kaum einen Neubeginn gegeben. Immerhin befanden sich sechs alte Universitäten und drei technische Hochschulen in der britischen Zone, unter denen Münster und Kiel die schwersten Beschädigungen aufwiesen. Wie so vieles andere, was grundsätzlich im August 1945 im Potsdamer Abkommen festgelegt worden war, darunter die vollständige Beseitigung von Nationalsozialismus und Militarismus, hing am Ende auch in der Hochschulpolitik viel von der konkreten Umsetzung vor Ort ab. Verantwortlich hierfür zeichnete in der britischen Zone der Leiter der Erziehungsabteilung Donald C. Riddy, von Beruf her Sprachwissenschaftler und Schulinspektor im britischen Kultusministerium. Aus seiner Feder stammt eine auch für die Kieler Universitätsgeschichte wichtige Denkschrift vom 22. Juni 1945. Darin hielt Riddy ausdrücklich fest, dass der Nationalsozialismus nur dann in den Köpfen nur dann zu überwinden sei, wenn der akademische Unterricht erneuert werde. Nicht der bestrafende Aspekt stand für die britische Bildungspolitik insgesamt im Vordergrund, sondern das Ziel einer Demokratisierung: Obwohl kein Weg an einer rascher Wiedereröffnung der akademischem Institutionen vorbeigehe, hieß es in der Denkschrift allerdings, sollten unter dem Druck der Verhältnisse nicht sämtliche Strukturen des überkommenen Universitätswesens unbesehen übernommen werden.

Genau das war aber tatsächlich der Fall, wofür eine Reihe von Gründen angeführt werden kann. Zunächst einmal muss man die schwierige Lage der britischen Besatzungsmacht und die zahlreichen Herausforderungen berücksichtigen, denen sie gleichzeitig gerecht werden musste. Vor allem die Nahrungsversorgung der Bevölkerung, die durch den Zustrom der Flüchtlinge und Vertriebenen immer weiter anschwoll, stellte ein Problem ersten Ranges dar. Daneben sah die britische Militärmacht sich unter dem Zwang, die Kontrolle beziehungsweise den Wiederaufbau administrativer Dienstleistungen bewerkstelligen zu müssen, um im Anschluss daran die vorsichtige Wiederbelebung des politischen Lebens in Gang zu bringen. Insgesamt darf daher kaum verwundern, dass die Bildungsreform von den britischen Besatzungsbehörden nur als zweitrangige Frage eingestuft worden ist. Schon Anfang 1947 wurde die Hauptverantwortung für den Wiederaufbau des Bildungswesens in deutsche Hände gelegt.

Die konkrete Entscheidung zur Wiedereröffnung der CAU war ist jedoch bereits früher gefallen. Sie verdankte sich unter anderem der Überlegung britischer Besatzungsoffiziere, wonach die anhaltende Schließung der Universitäten in der britischen Zone politisch gefährliche Unruheherde heraufbeschwören könne. Vor diesem Hintergrund gewährte der für Kiel zuständige Education-Officer Wilcox bereits Mitte Juli 1945 die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs. Wie Creutzfeldt im gleichen Monat berichtete, habe er sich ebenfalls rasch mit den britischen Behörden über die Rückführung der Universität von Schleswig nach Kiel geeinigt, wobei hier gleich eingefügt werden kann: Gerade dieser Punkt barg in den nachfolgenden Monaten noch erheblichen Konfliktstoff in sich, wurden doch damit schon lange schwelende Streitfragen im Raum Schleswig-Holstein berührt. Wilcox knüpfte jedoch die endgültige Bewilligung zur Wiedereröffnung der Universität an einige Voraussetzungen. Gefordert waren Angaben zu den Räumlichkeiten, wo der Lehrbetrieb überhaupt aufgenommen werden könne, und außerdem sollten Listen mit den Namen der in Frage kommenden Dozenten sowie den Themen der geplanten Vorlesungen zur Genehmigung vorgelegt werden. Weiterhin erwarteten die Briten Angaben über die schätzungsweise zu erwartende Studentenzahl, und ebenfalls wünschten sie eine Auflistung der notwendigen Lehrbücher.

Alle hier angesprochenen Fragen haben die britische Bildungsverwaltung und die deutschen Akteure in Kiel – sowohl auf Seiten der Provinzial- und Stadtverwaltung als auch in den Reihen der sich neu konstituierenden Universität – in den Monaten bis zum 27. November 1945, dem Tag der offiziellen Wiedereröffnung, in Atem gehalten. Angesichts der besonders drängenden räumlichen Probleme konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Planer für den Wiederaufbau zunächst vor allem auf die Ortsfrage.

In der Rückschau kann man es nur als ein großes Glück für die Universität werten, dass die Gebäude der Elektroacustic KG (kurz Elac), in der bis Kriegsende Güter für die Ausrüstung von Flugzeugen und Schiffen hergestellt worden waren, die Bombardierungen Kiels relativ unversehrt überstanden hatten. Nachdem auf energische Einwände von deutscher Seite hin die britische Militärmacht davon abgehalten werden konnte, die Gebäude zu sprengen, kam schon bald die Idee auf – vor allem Dank der Anregungen des Geologen Karl Gripp und des Werksleiters der Elac, Heinrich Hecht, in den Räumen der Unternehmung den Aufbau der "neuen Universität", wie sie bald genannt wurde, zu beginnen. Angesichts der dramatischen Kriegszerstörungen im Stadtbereich bot die Elac sogar günstige Voraussetzungen: Dazu zählten die hohe Belastungsfähigkeit der Decken (wichtig für Bücher), der leichte Zugriff auf billigen Strom, Gas und Wasser sowie hochwertige technischen Anlagen, was gerade für den Ausbau der naturwissenschaftlichen Institute wichtig war. Daneben verfügte die Elac über weitere, wenn auch einfache Vorzüge: Hier gab es nämlich so etwas wie Tische und Schemel, was man ja noch heute zu schätzen weiß.

Da jedoch zunächst noch Umbauten in der Elac vorgenommen werden mussten und die Bereitstellung von ausreichendem Wohnraum für die Studierenden schwerwiegende Probleme aufwarf, verfiel man im Sommer 1945 auf die Idee, vier im Kieler Hafen liegende Schiffe, darunter auch ein kleineres, im städtischem Besitz befindliches Schiff, für Vorlesungs- und Unterbringungszwecke zu nutzen. Die Vorlesungen begannen also – was ja erneut symbolischen Wert beanspruchen darf – auf schwankendem Boden. Zusätzlich boten die Schiffe rund 1000 Studierenden eine erste Unterkunft. Aber die zeitlich nur begrenzt von den Alliierten freigegebenen Schiffe und ihr vorzeitiger Abzug machten die "schwimmende Universität" letztlich zu einer kurzen Episode. Im Vergleich zu den hohen Heizungskosten und den bedrängten Verhältnisse auf den Schiffen bot zudem der bereits Anfang 1946 umgebaute Teil des Elac-Geländes deutlich bessere Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang sticht ein Bericht des britischen Offiziers James Mark vom 10. Januar 1946 ins Auge. Darin zeigt er sich sehr beeindruckt von den Aufbauarbeiten in Kiel. Die Kieler Universität werde, heißt es an dieser Stelle sogar, bald zu dem am besten ausgestatteten Universitäten in der britischen Zone gehören. Ähnliches geht aus einem Schreiben von Prorektor Erich Burck vom Juli 1946 hervor. So gebe es an der Universität Kiel, heißt es hier, ausgezeichnete Arbeitsmöglichkeiten für mindestens 3000 Studenten. Für eine zerstörte Stadt sei das eine Seltenheit und ohne jede Parallele unter den anderen Universitäten.

Bei der Lektüre der Akten kann man sich freilich nicht des Eindrucks erwehren, dass insbesondere die Professoren und darunter vor allem die Vertreter der zunächst nur nominierten Universitätsleitung in den Verhandlungen mit der britischen Besatzungsmacht vor allem auch deswegen wiederholt Orts- und Raumfragen thematisierten, weil so die schwerwiegenderen moralischen und politischen Fragen, darunter insbesondere die "Säuberung" des Lehrkörpers in den Hintergrund rückten. Wir berühren hiermit das schwierige Kapitel der Entnazifizierung der Lehrenden, aber auch der politischen Überprüfung der neu immatrikulierten Studenten. Auf diesem Gebiet behielt sich die Besatzungsmacht zunächst die letzte Entscheidungsgewalt vor: Nur wer die Genehmigung der Militärregierung erhielt, war berechtigt, Forschung und Lehre an der Universität auszuüben, beziehungsweise ein Studium aufzunehmen.

Die Aktenlage zu dieser Frage ist jedoch unübersichtlich, und auch die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über die politische Säuberung des wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Personals an der CAU vermitteln nur wenig zuverlässige Informationen. So wissen wir bislang so gut wie Nichts über die Tätigkeit des Entnazifizierungs-Komitees, über das die Senatsprotokolle vom März 1946 nur festhalten, die Herren des Ausschusses hätten Unterstützung durch jüngere Mitglieder erhalten. Wenn man jedoch die Listen der nur bruchstückhaft überlieferten Entlassungsschreiben mit den Personalverzeichnissen der Universität seit 1945 abgleicht, so wird ein Tatbestand offensichtlich: Es handelt sich um die Kontinuität des wissenschaftlichen Personals über die Wende des Jahres 1945 hinweg, vor allem in der Professorenschaft. Spätestens seit den frühen 1950er Jahren wurden die vorher ausgesprochenen Suspendierungen wieder rückgängig gemacht, meist aber schon vorher. Selbstverständlich beschränkte sich dieser Vorgang nicht auf Kiel, aber er trat gerade hier sehr deutlich zutage. Mehr oder minder lakonisch notiert dazu ein unsignierter Bericht schon aus dem Jahr 1948: "Neben [der ] raschen Klärung der Raumfrage war es für den Wiederaufbau des Lehrbetriebs nicht weniger wichtig, dass sich die Mitglieder des Lehrkörpers, die bei Kriegsende zum größten Teil im Wehrdienst standen, sehr bald wiederzusammenfanden. Die Lücken, die im Lehrkörper durch Todesfälle [...] und nach dem Kriege durch Emeritierungen und durch Entlassungen entstanden, konnten im allgemeinen sehr schnell geschlossen werden, zumal der größte Teil der zunächst entlassenen Professoren und Dozenten rehabilitiert wurde". Man sollte diese Vorgänge nicht pauschal nachträglich moralisieren. Denn im Einzelfall hatte die erzwungene Zwischenquarantäne durchaus zu Neuorientierungen geführt, und wir wissen heute – nach den Umbrüchen des Jahres 1989/90 – dass auch später Gesellschaften, gerade auch in Ostmitteleuropa, sich schwer getan haben mit dem Neuaufbau akademischer Institutionen nach langen Jahren einer Diktatur. Auch unter den Studenten, die sich in Kiel immatrikulierten, sind die Entnazifierungsverfahren oft als persönlich schwere Belastung empfunden worden. Immerhin bare hatte die britische Entnazifizierungspolitik von vornherein die Möglichkeit in Betracht gezogen, das der einzelne sich in Zukunft von einem früheren NS-Anhänger zum Demokraten wandeln könne.

Gleichwohl machen Vorhaltungen der alliierten Besatzungsoffiziere auf einer Hochschulrektorenkonferenz vom Frühjahr 1946 gegenüber dem Kieler Rektor Creutzfeldt sehr deutlich, dass die hiesige Universität sich alles andere als energisch um eine Wiedereingliederung vertriebener Emigranten gekümmert hat. Und auch die Korrespondenz in vielen Einzelfällen sowie die bereits genannten Wiedergutmachungsakten hinterlassen ein mehr als zwiespältiges Bild. Letztlich verblieben, das zeigen auch die Ausführungen von Creutzfeldt bei seiner Immatrikulationsrede im Januar 1946, große Teile Kieler Professoren nach dem Zweiten Weltkrieg einem Denken in überkommenen politischen Kategorien verhaftet. Das führte zum einen zur Ausblendung einer kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Zum anderen hielten sie geradezu verkrampft am Bild einer unpolitischen Universität fest, obwohl sie selbst gleich nach Kriegsende mit dem Politisieren fortfuhren. Creutzfeldt jedenfalls verpflichtete die Kieler Studenten schon im Januar 1946 "auf die Treue zu Vaterland und Volk" und entpuppte sich damit doch nur erneut als Anhänger der Idee vom nationalen Wächteramt der Professoren. Der Anspruch auf eine umfassende geistige und sittliche Erneuerung, wie ihn der erste gewählte Oberpräsident, Theodor Steltzer, am 27. November 1945 im Rahmen der Eröffnungsfeier eingefordert hatte, wurde so zunächst kaum umgesetzt. Vielmehr erscholl, wie auch aus anderen gesellschaftlichen Kreisen, bald vermehrt der Ruf, den der Musikwissenschaftler Friedrich Blume schon Mitte 1946 formulierte. Danach müsse Deutschland damit rechnen können, nach einer "Sonderzeit" bald wieder gleichberechtigt zu werden: "Deutscher Geist und deutscher Fleiß verdienten, wieder eingesetzt zu werden statt ungenutzt daniederzuliegen", meinte Blume. Aus dem Ausland mussten solche Stimmen zwangsläufig Kritik auf sich ziehen: So hieß es bereits 1946 im Manchester Guardian: "Im großen und ganzen neigt der deutsche Universitätslehrkörper nicht zu links eingestellten politischen Ansichten. Viele Personen sind in der Vergangenheit neutral und politisch nicht sehr interessiert gewesen." Es könne daher lange dauern, bis die Universitäten aus ihrer eigenen geistigen Zurückgezogenheit heraustreten.

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Trotzdem beziehungsweise gerade deshalb: Ab November 1945 hat es an der CAU durchaus einen Aufbruch und auch Fortschritt gegeben. Aus den Jahresberichten der Rektoren bis in die 1950er Jahre ergibt sich sogar eine ausgeprägte Gegenwarts- und Zukunftsorientierung. Beklagt werden darin zum einen die Schwierigkeiten der Gegenwart, und zum anderen stellten die Rektoren Visionen für die Zukunft auf, während sie gleichzeitig über die Vergangenheit schwiegen. Ebenso auffallend ist, wie rasch sich ein Gefühl von Business as usual einstellte. Nachdem schon zum Sommersemester 1946 die Umbauten in der Elac weit vorangeschritten waren und alle geisteswissenschaftlichen Institute in der neuen Universität untergebracht werden konnten, setzte danach im alten Universitätsgelände der Wiederaufbau der teilweise erheblich beschädigten Kliniken ein. Zwar provozierte der Kohlenmangel im Winter 1946/47 erneut einen Einbruch in den Lehrveranstaltungen, aber schon im Sommersemester zuvor hatte die Universitätsbibliothek erstmals ihre Pforten für zumindest 150 Leser öffnen können. Bis Anfang der 1950er Jahre wurden sogar rd. 300000 Bände den Nutzern zugänglich gemacht. Dass auch die Baugeräusche in der Elac zu diesem Zeitpunkt abflauten, verdeutlicht endgültig: Die "neue Universität" hatte ihre erste Aufbauphase abgeschlossen.

Ohne jeden Zweifel nahm die erste Studentengeneration einen gewichtigen Anteil am raschen Wiederaufbau der Universität [Wir werden darüber gleich noch mehr von unseren Zeitzeugen erfahren). Wesentlich auf ihren Anstoß ging zurück, dass sie bei Aufräumungs- und Enttrümmerungsarbeiten eingesetzt wurde. Was ursprünglich als eine freiwillige Maßnahme begonnen wurde, erhielt jedoch bald verpflichtenden Charakter, um sogenannte Drückeberger nicht zu bevorzugen. Jeder Student war danach mit mindestens dreißig Arbeitsstunden pro Semester beteiligt. Auch noch im Sommersemester 1947 erfolgte ein vom Senat beschlossener ehrenamtlicher Enttrümmerungsdienst der Studenten und Dozenten. Wenn der Rektoratbericht dieser Phase zutrifft, wirkten "sämtliche Studenten mit Ausnahme der Kriegsbeschädigten und der Examenssemester in Erkenntnis der Notwendigkeit mit, ihren Teil zur Heilung der durch den Krieg geschlagenen Wunden beizutragen, um auf dem weit über die Stadt verstreuten Universitätsgelände Ordnung und Sauberkeit wiederherzustellen." Überhaupt verfügen wir über zahlreiche Hinweise, die auf den "ungewöhnlicher Fleiß der Studierenden", ihre Ernsthaftigkeit und die nur geringen Verstöße gegen die "Pflichten eines akademischen Bürgers" in dieser Phase berichten.

Das Gesagte verweist insgesamt auf eine allgemeine Aufbruchstimmung sowie das Gefühl einer Gemeinsamkeit von Lehrenden und Studierenden, die der Sondersituation der geteilten Kriegs- und Nachkriegserfahrungen zuzurechnen ist. Mein Kollege und Zeitzeuge Klaus Friedland berichtet in seinen Erinnerungen von einer nachgerade legendären Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Dennoch sollten uns derartige Einschätzungen nicht die Wiederbelebung stark paternalistisch geprägter Autoritätsmuster übersehen lassen. Auffallend ist weiterhin, wie viele Berichte sich aus den ersten Semestern mit der sozialen Lage der Studenten und ihren Zukunftsaussichten beschäftigten. Ein Grund hierfür war die anfängliche Sorge der britischen Kontrolloffiziere, dass die meist gedienten und kriegserfahrenen Studenten, die ja alle im Nationalsozialismus aufgewachsen waren, eine politisch potentiell gefährliche Gruppe abgeben könnten. Es war daher auch alles andere als ein Zufall, dass die Aufmerksamkeit der britischen Militärregierung stark auf die Universität Kiel gerichtet war, weil hier ein überproportional starkes Kontingent ehemaliger Berufsoffiziere der Wehrmacht immatrikuliert worden war. Noch mehr aber waren es soziale Fragen, die ab dem Winteresemster 1945/46 eine genaue Beobachtung studentischer Verhältnisse nahelegten, so dass wir heute viel mehr über diese Generation wissen als über die heutigen Studierenden. Selbst der Frisörbesuch ist für das Jahr 1948 gezählt worden: Von 3030 Studenten gingen, so die Statistiker, knapp 500 ständig zum Haarschneider, knapp jeweils 700 kamen selten oder gelegentlich, aber knapp 1300 erschienen nie. Wichtiger jedoch als solche Luxusausgaben waren selbstverständlich zwischen 1945 und 1950 die sog. "Brot-und-Butter"-Fragen. Anfangs war es tatsächlich für viele Studierenden nicht einfach, überhaupt geregelte Mahlzeiten zu ergattern. Aber doch ist es dem Studentenwerk in Kiel recht bald gelungen durch die geschickte Kombination von Hoover-Schulbespeisungen mit Lebensmittelspenden des Schwedischen Roten Kreuzes und von anderen Stellen der Mehrzahl der Studenten wenigstens täglich wirklich eine sättigende und dabei billige Mahlzeit zur Verfügung zu stellen. Trotzdem wiesen auch Ende 1947 nur 175 von rund 3000 Studierenden ein Normalgewicht auf; immerhin 16 Prozent waren untergewichtig bis zu rund einem Fünftel des durchschnittlichen Körpergewichts. Den Messungen zufolge kamen die Damen übrigens hierbei etwas besser weg.

Wenn man sodann die sozialen Schwierigkeiten vieler Studenten nach der Währungsumstellung 1948 auf die DM ins Auge nimmt, ist nicht zu übersehen, wie düster die Professoren, aber auch die Studierenden selbst ihre Zukunftsaussichten im gleichen Zeitraum einschätzten. "Studenten im Daseinskampf", lautet etwa ein einschlägiger Bericht in den Kieler Nachrichten aus dieser Zeit. Hierbei schlug zu Buche, dass die Zahl der Ostflüchtlinge an der Universität Kiel besonders hoch ausfiel. Der Anteil wirtschaftlich schlecht gestellten Studenten nehme ständig zu, wird weiterhin berichtet. 80-90% mussten ständig als Werksstudenten arbeiten, und manche Diplomarbeit und Dissertation habe nur im Bett geschrieben werden können.

Dennoch gibt der Bericht nicht das ganze Bild des studentischen Lebens dieser Jahre wieder. Denn zum einen wissen wir Nachlebenden, dass mit dem säkularen ökonomischen Aufschwung ab Anfang der 1950er Jahre den Angehörigen dieser Generation soziale Chancen in einem Ausmaß eröffnet wurden, wie es sie vorher und nachher nie wieder gegeben hat. Und auch sehr viel konkretere Angaben verweisen auf eine Renormalisierung der Kieler Verhältnisse schon vor 1949/50, waren doch bis zu diesem Zeitpunkt bereits 17 Verbindungen neu begründet worden. Kritischen Stimmen folgend, wurde darin erneut "nach traditionellem Ritus gesungen, getrunken und gedacht". Auch der Kieler Soziologe Gerhard Mackenroth befürchtete schon Ende der 40er Jahre, dass sich dahinter nur ein verkrampftes Festhalten an bürgerlichen Wertehierarchien äußere. Blickt man sodann in die weiteren Ausgaben der Studentenzeitschriften aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre, so ist von den Trümmern eigentlich keine Rede mehr. Dazu passt eine Äußerung von Rektor Heinrich Rendtorff aus seinem Jahresbericht von 1948/49. Nachdem die Studentenschaft "im Zeichen eines Fleißes" gestanden habe, den frühere Generationen in dieser Selbstverständlichkeit nicht gekannt hätten, sei jetzt wieder eine Lockerung des "tierischen Ernstes" zu beobachten, der wirklich wissenschaftlicher Arbeit nicht ungefährlich ist. Ich denke, ich schließe mich diesem Urteil hier an und beende daher meine ernsthaften, hoffentlich nicht zu tierisch ernsten Ausführungen an dieser Stelle und eröffne den Reigen für eine vergnügliche Fragerunde mit studentischen Zeitzeugen der gleichen Epoche.

Literaturangaben

Festvortrag von Prof. Cornelißen am 31.10.2005 im Rahmen der Veranstaltung "Neuanfang aus den Trümmern"

Publikationen zur NS-Aufarbeitung

  • 2020 | Kiel
    »Abseits der Universität? Skandal, Terrorismus, Kriegsgefangenschaft in der Kieler Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts« (Kieler Studien zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1) herausgegeben von Oliver Auge und Karen Bruhn.
     
  • 2020 | Frankfurt a.M.
    »Karriere und Karriereknick. Der Arktisforscher Karl Gripp (1891-1985) zwischen Weimar, Weltkrieg und Wiederaufbau« (Kieler Werkstücke Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 56) verfasst von Knut Kollex.
     
  • 2020 | Kiel
    »Alfred Kamphausen und seine Rolle als Museumsdirektor und Wissenschaftsorganisator in Schleswig-Holstein«. In: Forschung in ihrer Zeit. 125 Jahre Kunsthistorisches Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Kieler Kunsthistorische Schriften, N.F. 18.), S. 361-381 verfasst von Karen Bruhn.
     
  • 2017 | Kiel
    »Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärs­korps am Beispiel der Universität Kiel (1927-1945)« (Kieler historische Studien 44) verfasst von Martin Göllnitz.
     
  • 2017/18 | Kiel
    »Die Entscheidung fiel einstimmig - Die Causa Schittenhelm« In: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte 57/58, S. 122-140 verfasst Karen Bruhn.
     
  • 2017 | Frankfurt a.M.
    »Das Kieler Kunsthistorische Institut im Nationalsozialismus. Lehre und Forschung im Kontext der "deutschen Kunst"« (Kieler Werkstücke Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 47)verfasst Karen Bruhn.
     
  • 2016 | Kiel
    »Der deutsche Professor in der NS- und Nachkriegszeit – Eine Typologie anhand des Kieler Fallbeispiels« In: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 91, S. 56-59
    verfasst von Karen Bruhn.
     
  • 2014 | Kiel
    »Gelehrte Köpfe an der Förde: Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665« (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73) herausgegeben von Oliver Auge und Swantje Piotrowski.
     
  • 2009 
    Wissenschaft an der Grenze: Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 86. Klartext-Verlagsgesellschaft.
    von Christoph Cornelißen
     
  • 2007 | Kiel
    Die Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel und der Nationalsozialismus, Band 2.
    von Hans Werner Prahl / Hans-Christian Petersen / Sönke Zankel (Hrsg.)
     
  • 2007 | Kiel
    Die Erfahrungen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und die Idee der Universität – Karl Jaspers (1946).
    Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 65 (2007). S. 55-67.
    von Gerhard Fouquet
     
  • 2001 | Bielefeld
    Eine Universität in Deutschland. Zur Lage der Studenten an der Universität Kiel im Dritten Reich. In: Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Die Pädagogische Hochschule Kiel im Dritten Reich. Bielefeld 2001, S. 56-71.
    Manfred Hanisch
     
  • 1965 | Kiel
    Die Christian-Albrechts-Universität in preußischer Zeit. In: Hofmann, Erich u.a. (Bearb.): Allgemeine Entwicklung der Universität (Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665-1965, 1.2).
    von Erich Hofmann
     
  • 1965 | Neumünster
    Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665 bis 1965.
    von Karl Jordan
     
  • 1994 | Frankfurt am Main u.a.
    Studenten der Christian-Albrechts-Universität im Dritten Reich. Zum Verhaltensmuster der Studenten in den ersten Herrschaftsjahren des Nationalsozialismus (Kieler Werkstücke: Reihe A, Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte, Bd. 10). 
    von Matthias Wieben

Augenzeugenberichte

Rudolf Titzck: Bericht eines Augenzeugen über sein erstes Nachkriegssemester

Das Jahr 2005 ist ein Jahr der Erinnerung. Die Zahl der für erinnerungswürdig gehaltenen Ereignisse des Jahres 1945 ist Legion. Vor 60 Jahren endete mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht der Zweite Weltkrieg – in apokalyptischen Dimensionen. Dem totalen Krieg folgte der totale Zusammenbruch. "Vae victis!" (Gallierkönig Brennus zu den besiegten Römern, 390 v. Chr.). In einem Merkblatt für entlassene deutsche Kriegsgefangene heißt es: "Ihr alle seid mitschuldig an dem, was geschah. Ihr alle werdet dafür zu büßen haben." Die uns im Lateinunterricht vermittelte Kenntnis von den möglichen Folgen eines verlorenen Krieges wurde für meine Generation 1945 – also nach 2.335 Jahren – zur eigenen Erfahrung.

Besonders meine Generation der 45er (Geburtsjahrgänge 1922-1930) schuldet den Initiatoren der heutigen Festversammlung Dank dafür, dass sie an ein so überaus positives Ereignis erinnern: an die Wiedereröffnung der 1945 280 Jahre alten im Kriege zerstörten Christian-Albrechts-Universität in einer durch 90 Luftgroßangriffe verwüsteten Stadt. Auch nach 60 Jahren erscheint es noch wie ein großes WUNDER (!), dass auf den Tag genau nur sechs Monate nach Eintritt der Waffenruhe in meiner Heimat Schleswig-Holstein (5. Mai 8.00 a. m.) der von der Britischen Besatzungsmacht eingesetzte Rektor (Prof. Creutzfeldt) meine Zulassung zum Studium an der Universität Kiel verfügt hat. Die Zulassung erfolgte "vorbehaltlich der Genehmigung der britischen Militärregierung". Die insoweit bereits wieder funktionsfähige "Reichspost" stellte mir den Bescheid am 14. November in meinem Elternhaus in Satrup (Angeln) zu. Die Zulassung war ein erster Lichtschein am Ende eines langen und dunklen Tunnels, in dem wir 45er uns damals – seit Kriegsende – ohne jede Perspektive für unsere Zukunft befanden. Der Poststempel Kiel 1 war übrigens mit einem Sparappell verbunden worden; "Spart Strom-Gas-Kohle". Ergänzt durch das Wort "Oel" ist der Appell (nach 60 Jahren) auch heute noch oder wieder höchst aktuell.

Die Universitätsstadt Kiel hat uns 1945 zwar nicht mit einem Begrüßungsgeld oder mit Freizeitangeboten gelockt. Aber das unverhoffte Glück, studieren zu dürfen, war gleichwohl kaum zu fassen.

Zu der heutigen Festveranstaltung bin ich als Zeuge, als Zeitzeuge geladen und vor meiner Vernehmung (diskret) zur Wahrheit ermahnt worden. Die Achtung vor dem Zeugen gebietet es, seine Glaubwürdigkeit möglichst zu bejahen. Der Zeugenbeweis gilt als das wohl unsicherste Beweismittel. Mir wird die Einvernahme dadurch erleichtert, dass Zeugen jedenfalls im Zivilprozess grundsätzlich uneidlich zu vernehmen sind.

Die Vernehmung beginnt damit, dass der Zeuge zur Person befragt wird. Also:
Ich heiße Rudolf Titzck.

  • Alter: Ich bin vor gut achtzig oder, was meine Frau lieber hört, vor 79 + 1 Jahren zum ersten Male urkundlich erwähnt worden (im Geburtsregister des Standesamtes Neukirchen in der Wiedingharde).
  • Stand: nach mehr als 40 Jahren im öffentlichen Dienst und in öffentlichen Ämtern pensionierter Staatsdiener und damit, wie ich kürzlich in der Zeitung lesen konnte, "eine kaum noch bezahlbare Hypothek für die Zukunft" (des Landes).
  • Wohnort: Landeshauptstadt Kiel und Nebel-Westerheide auf Amrum.

Nachrichtlich:

Vor sechzig Jahren:

Stand: Kriegsgefangener in Brekling bei Schleswig; eingesetzt als Dolmetscher bei einer britischen Entlassungseinheit; Wochen nach einem ohnehin späten Vorlesungsbeginn aus dem Heer entlassen, nach beurkundeter Meinung des Sanitätsoffiziers als "geeignet", "ungezieferfrei" und "ohne ansteckende oder übertragbare Krankheit"; alsdann stud. jur. in Kiel, Hansastr. 99.

Vernehmung zur Sache:
Als Zeuge kann ich nur über Tatsachen vernommen werden. Die Tatsachen, die ich bekunden soll, liegen 60 (!) Jahre zurück.

Das Beweisthema:
Die allgemeinen und besonderen Lebensverhältnisse eines Studenten im ersten Nachkriegssemester (im WS 1945/1946) in Kiel, eines Menschen, der als Angehöriger der Erlebnis- und Kriegsgeneration – sozusagen als 45er – "noch einmal davon gekommen war".

Der Zeuge ist zu veranlassen dasjenige, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben. Also: "Erinnerung-Sprich!" (Vladimir Nábokov)

Der kürzlich verstorbene Wissenschaftler und Politiker Peter Glotz schreibt in seinem letzten Buch: "Die Erinnerung tappt durch unsere Vergangenheit wie ein Betrunkener mit Taschenlampe durch einen stockfinsteren Stollen. Daraus formt sich das Weltbild" (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18. September 2005 S. 6).

Ich halte mich deshalb zunächst an mein Studienbuch: Ausstellungstag und Tag der Aufnahme: 27. November 1945. Tag des Abgangs: 12. März 1948, nachdem ich mich im 5. Nachkriegssemester, meinem 6. Fachsemester, zum Examen gemeldet hatte.

Für das WS 1945/1946 habe ich – und das klaglos – eine Aufnahmegebühr (30 RM), Unterrichtsgelder für 20 Wochenstunden zu je 3 RM = 60 RM und eine Studiengebühr (verbunden mit einer Wohlfahrtsgebühr) 110 RM, insgesamt 200 RM gezahlt.

Aus dem durch Krieg und Kriegsfolgen sehr gelichteten und demnach kleinen Kreis der Dozenten nenne ich mit Respekt und Dank die Namen der Professoren Larenz (Schuldrecht I), Dulckeit (Röm. Rechtsgeschichte und Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts), Schneider (Theoretische Volkswirtschaftslehre), Schoenborn (Pol. Geschichte Europas seit dem 18. Jahrhundert) und Hallermann (Gerichtliche Medizin für Juristen).

Die Vorlesungen – überwiegend gehalten in den ungeheizten ausgeräumten Werkhallen der früheren Elac – verliefen störungsfrei.

Die 68er waren noch nicht geboren. Sie haben erst 23 Jahre später gegen "den Muff der tausend Jahre" demonstriert, der unter den Talaren der Ordinarien vermutet wurde, "dort, wo heute", wie kürzlich in der "ZEIT" stand (Ausgabe vom 14. Juli 2005), "die Absolventen ihre Fotohandys verstecken".

Im WS 1945/1946 wurde in den vier klassischen Fakultäten (Theologie, Rechtswissenschaften, Medizin und Philosophie) 1.962 Studierenden mit einem – kriegsbedingt – durchschnittlich hohen Lebensalter die Chance zum Neubeginn eröffnet.

Die meisten waren Soldaten gewesen, darunter viele Berufssoldaten, die eine neue (zweite) Berufsausbildung beginnen mussten. Zu meiner Fakultät gehörte nur eine Frau – eine Kriegerwitwe. Mit meinen 20/21 Jahren war ich einer der Jüngsten – ein Juristenbaby.

Zum Vergleich: Im WS 2005/2006 hat sich die Zahl der Studierenden mehr als verzehnfacht (21.132, davon ca. 54 % weiblich).

Als Studenten waren wir vor 60 Jahren hoch motiviert. Wir haben uns voll auf das Studium konzentriert. Parkplatzprobleme hatten wir keine. Wir wussten insbesondere als Infanteristen ja, wie weit uns unsere Füße tragen konnten. Vor abendlichen und nächtlichen Ablenkungen bewahrte uns fürsorglich die Militärregierung mit einem Ausgehverbot (curfew) von 22.15 bis 05.00 Uhr. Auch das spritzige und geistreiche Studentenkabarett "Die Amnestierten" unterhielt uns erst in späteren Semestern.

Der Historiker Karl Jordan hat in seiner Jubiläumsschrift "Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665 – 1965" über meine Generation Folgendes geschrieben (S. 59):

"Wer (aber) diese ersten Jahre nach dem Kriege als akademischer Lehrer miterleben durfte, wird sie trotz aller Not jener Jahre zu seinen schönsten Semestern zählen; fand er doch in der aus dem Kriege heimkehrenden Generation einen Schülerkreis von einer seltenen geistigen Aufgeschlossenheit und Aufnahmebereitschaft." (Zitat Ende).

Unsere allgemeinen Lebensverhältnisse im ersten Nachkriegswinter waren durch Wohnungsnot, Kälte und Ernährungsmangel bestimmt, wenn auch der Spruch: keiner soll hungern, ohne zu frieren, in seiner Absolutheit nicht voll zutreffend war.

Schlussbemerkung

Ich bin dankbar, dass ich – um einen Gedanken von Professor Theodor Wilhelm aufzunehmen – in einer Zeit studiert habe, in der es noch keinen Zweifel gab, dass man für den Wiederaufbau gebraucht wurde.

Mein Wunsch ist, dass auch die heute – sechzig Jahre nach uns – Studierenden die Überzeugung gewinnen, dass das zu meinen Lebzeiten geteilte und wiedervereinigte Deutschland sie alle braucht. Es gibt nämlich wieder viel zu tun!

Bericht eines Zeitzeugen über sein erstes Nachkriegssemester 1945/1946 an der CAU zu Kiel, Rudolf Titzck Kiel, 31. Oktober 2005, Landesminister a. D.

Literaturangaben

Vortrag von Rudolf Titzck am 31.10.2005 im Audimax im Rahmen der Veranstaltung "Neuanfang aus den Trümmern"

Joachim Krumhoff: Student nach dem Krieg

Nicht Jurist, also kein Anlass zu Vereidigung. Studienbeginn erst WS 1946/47, d. h. noch junges Semester. Zur Person ein paar Stichworte:

Ich heiße Joachim Krumhoff, Jahrgang 1924. Habe (notgedrungen) nach dem Krieg Landwirtschaft gelernt und anschließend studiert.

Berufliche Stationen: Institut für Weltwirtschaft, 3 ½ Jahre auswärtiger Dienst in Paris. Abwerbung in den internationalen Getreidehandel mit Sitz in Paris und seit 1958 gelegentlich in Moskau. 15 Jahre Chef der hiesigen Getreide AG, als solcher pensioniert. Danach für die Weltbank Ausarbeitung von Ernährungsprogrammen in afrikanischen Staaten und Schulung osteuropäischer Spitzenmanager. Konsul eines afrikanischen Landes für Norddeutschland.

Familienstand: (etwas altmodisch) Immer noch sehr glücklich verheiratet, fünf Kinder, 12 Enkel. Soviel zur Person!

Wenn sich heute die alten Leute für gescheiter halten als die so genannte Jugend von heute und diese wiederum meint, die Alten lebten in einer sich vergoldenden Erinnerung und kriegten nicht mehr alles so richtig mit, dann entspringen bei beiden Gruppen diese Gedanken einer sehr gesunden Selbsteinschätzung. Beide sollten dabei bleiben. Es war schon immer so.

Das Studentenleben kurz nach Kriegsende war sicherlich in mancher Hinsicht schwierig, aber gewiss reich an skurriler Komik. Ich glaube auch, dass die Mehrzahl meiner damaligen Kommilitonen und ich nur selten bereit waren, selbst ernsthafte Dinge in gebotenem Maße ernst zu nehmen. Schließlich waren wir so gerade eben noch halbwegs heil davon gekommen. Die hierfür empfundene Dankbarkeit und ein festes Gottvertrauen waren natürlich eine hervorragende seelische Ausgangslage, mit den großen und kleinen Ärgernissen des täglichen Lebens umzugehen. Da hatten wir in den Jahren zuvor ganz andere Sachen erlebt.

Nach den vorgeschriebenen Aufräumungsarbeiten in den Trümmern der alten Uni am Schlossgarten durften wir in die Vorlesung. Zu danken hatten wir das auch den neuen University Control Officers der Kieler Militärregierung – genannt seien nur die uns schließlich befreundeten Mrs. Cunningham und John Dennis Ward –, die im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Universitäten ehemalige Wehrmachtoffiziere zum Studium zuließen.

Das große, allgemeinbildende Angebot einer universitas literarum konnten wir trotz unseres kulturellen Hungers nur wenig nutzen. Die wenigen Hörsäle, oft bis zu 12 Stunden durch mehrere Fakultäten genutzt, waren zumeist überfüllt. Auch waren wir darauf versessen, die frühesten Prüfungstermine zu ergattern, um möglichst schnell in den Beruf zu kommen, obgleich Arbeitsplätze kaum in Sicht waren.

Aber Glanzpunkte bescherte doch das Mithören in der Hallermannschen Gala-Vorlesung "Forensische Psychiatrie" oder das Seminar des greisen Dorpater Professors Anderson über die vergleichende Volkslied- und Märchenforschung, für das jedes Mal ein Stücklein Holz für den Ofen mitgebracht werden musste.

Außerdem wurden die von den Juristen am Morgen geschriebenen Klausuren fakultätsübergreifend beim Mittagessen in der Mensa diskutiert, wo bisweilen das Kalkwasser von der frischen Betondecke in die Kohlsuppe tropfte.

Zum Thema Verpflegung sei den großzügigen Spenden aus den USA und Schweden hier gedankt, die die große Zahl der an TBC erkrankten Studenten in Grenzen hielten und sicherlich einigen das Leben gerettet haben. Der plötzliche ungewohnte Genuss fetten Schweinespecks stellte allerdings bisweilen die Sanitäranlagen wie auch den Studentenarzt vor Probleme, und wir mussten selbst hergestellte Holzkohle futtern.

Dank auch dem isländischen Industriellen, der als junger Mann in Kiel studiert hatte und dem Studentenwerk 20 große Fässer mit reinem Walöl stiftete. Es hat uns monatelang das Braten von Kartoffeln und gelegentlich von auf halbem Fleischmarkensatz gekauftem Pferdefleisch ermöglicht.

Unsere Unterkunft im weitgehend zerstörten Kiel begann auf einem rotten Schiff im Hafen, von dem uns die Ratten ebenso vertrieben wie einige Monate später die Gesundheitspolizei aus einem ausgebrannten Mietshaus ohne Strom, Wasser und Kanalisation in der heutigen Feldstraße. Und dann geschah das große Wunder: Das Wohnungsamt wies einem Kommilitonen und mir in einer Villa am Forstweg ein beschlagnahmtes Zimmer mit fließend kaltem Wasser und WC-Benutzung zu.

Die Finanzierung von Lebenshaltung und Studiengebühren stellte eine pfiffige Arbeitsvermittlung sicher. Sie besorgte mir einen Job auf dem provisorischen Seefischmarkt zum Sortieren von Dorsch, Butt und Hering. Leider musste ich diese Tätigkeit schließlich wegen des massiven Fischgeruches im ganzen Haus am Forstweg wieder aufgeben. Ich sattelte um zum Hilfskellner mit freiem Abendessen in einer bei der Sittenpolizei nicht gerade hoch angesehenen Gaststätte in Hafennähe.

Dass fröhliche Feste in der Forstbaumschule nicht zu kurz kamen ist klar. Aus Molke gefertigtes so genanntes Bier auf dem Tisch, die Flasche mit schwarzgebranntem Rübenschnaps unter dem Tisch.

Unsere ersten politischen Gehversuche auf dem zuvor so verfemten Gebiet der Demokratie machten wir im damals noch parteifreien AStA (Wahlbeteiligung bis 80 %) und später in deutschen und internationalen Studentengremien. Ein paar kurze Erinnerungen aus dieser Zeit möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: 1948 wurde ich teilweise in Begleitung meines Freundes und Stellvertreters Hendrik Genth des Öfteren in den Beirat des Parlamentarischen Rates in Bonn eingeladen, der mit der Ausarbeitung des deutschen Grundgesetzes befasst war. Die persönlich sehr bereichernden Gespräche mit den Frakti-onschefs Theodor Heuß (FDP), Carlo Schmid (SPD) (in meinen Augen übrigens der hervorragendste Übersetzer der Lyrik von Baudclaire), Konrad Adenauer (CDU) und dem bedeutenden Kommunistenboss Heinz Renner bleiben unvergessen.

Ebenso die Teilnahme am ersten für Deutsche zugänglichen Welt-Studentenkongress 1948 in Prag, wo wir beiden deutschen Sprecher von den französischen Vertretern mit herzlichen Worten willkommen geheißen wurden. Als in einer späteren Diskussion die Sprecher zweier im Krieg neutral gebliebener europäischer Staaten Deutschland und seine Wehrmacht unmäßig scharf verurteilten, verteidigte uns der sowjetische Sprecher Grigori (im Krieg Leutnant wie ich gewesen) mit den Worten: "Eure beiden Länder haben an diesem schrecklichen Krieg nur verdient. Seid froh drüber und schweigt!"

In diese Zeit fiel auch die von uns aus Kiel stark betriebene Gründung des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) als offizieller Gesprächspartner der erst später konstituierten Legislative und Exekutive. Er wurde später zeitweise – so wie mancher AStA auch – eine leichte Beute extremer Gruppierungen.

Erlauben Sie mir bitte schließlich noch eine Anmerkung zu meinen Jahrgängen, von deren schütter gewordenen Überresten man gelegentlich noch das Jammern über die "verlorenen Jahre" hören kann. Solche Jahre hat's bei mir nie gegeben.

Mit 9 Jahren in einem faszinierenden und zunächst weltweit respektierten nationalsozialistischen Regime begeistert mitzumachen, sodann erste Zweifel daran zu hegen und es schließlich mit Entsetzen zu durchschauen, das ist schon eine sehr massive, durch nichts zu ersetzende politisch/praktische Erfahrung und Fortbildung. Selbst die im Alter von 17 ½ Jahren begonnene dreijährige Zeit als Frontsoldat war keineswegs verloren. Noch heute bei mir tief sitzende Erlebnisse und Szenen zeigten mir mein eigenes und anderer Menschen Wesen. Sie führten zu der seelischen Gelassenheit, mit der ich mich 1946 unter den milden Flügelschlag des Herzogs Christian Albrecht in Kiel begab. Dort stellten wir dankbar fest, dass unser Verhältnis zu den direkt von der Schule kommenden jüngeren Kommilitonen keine Probleme aufwarf, wenngleich wir uns beiderseits ab und zu wie verschiedene Generationen vorkamen.

Werde ich nach einem rein äußerlichen Unterschied zwischen den heutigen Studenten und uns damals gefragt, so nenne ich die Olshausenstraße. 1946-48 traf man dort vorwiegend fröhlich schwatzende, laut lachende Studentengruppen. Heute will es mir scheinen, als wenn an gleicher Stelle die Studenten nicht nur oft einzeln daherkommen, sondern auch ernste und in sich gekehrte Gesichter zeigen.

Dazu möchte ich zum Schluss aus unserer einst praktizierten Erfahrung den heutigen Kommilitonen eine kleine Empfehlung übermitteln:

Erstens: Bitte lachen Sie mehr! Und Zweitens: Nicht zuletzt auch über sich selbst. Hilft immer!