
Anders, aber gleich
Wo beginnt unser »Ich«, und wie grenzen wir uns damit von anderen ab? Und welchen Einfluss haben Romane auf unsere Vorurteile gegenüber anderen? Eine Antwort darauf findet die Professorin für Literaturwissenschaft Anna M. Horatschek am Englischen Seminar.

Reisen und Lesen sind die besten Werkzeuge, um andere Kulturen nicht nur aus der Ferne zu betrachten, sondern sie zu verstehen.
Foto: Rathish Ghandi/Unsplash
Identität ist eine komplizierte Sache. Man setzt sie aus vielen Bausteinen zusammen: Eigenschaften, die man gern hätte oder zu haben glaubt, Wünsche und Ziele, Moralvorstellungen und Religion, Herkunft und Erziehung zum Beispiel. Man zieht eine Linie: Hier bin ich – und dort sind »die Anderen«. Den gewichtigen Einfluss von Literatur auf diese Identitätsbilder untersucht Professorin Anna M. Horatschek. Die Direktorin des Englischen Seminars schaut sich an, wie Autorinnen und Autoren in ihren Erzählungen einzelne Figuren darstellen und wie diese Darstellungen die Sichtweise der Lesenden beeinflussen.
Dies zeigt sich etwa bei der Beschreibung anderer Kulturen, die die Lesenden niemals selbst kennenlernen: Als der berühmte polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad in seiner 1899 erschienenen Reiseerzählung »Herz der Finsternis« – trotz der eigentlich guten Absicht, den Kolonialismus anzuprangern – die Einwohner des Kongos als »unterentwickelte und irrationale Teufelsanbeter« beschrieb, bestätigte er damit die Ansichten der meisten Leserinnen und Leser im heimischen Großbritannien. Der Gedanke »Wir sind gut und die sind es nicht«, ist auch Generationen später noch Realität in vielen Köpfen, egal ob es sich bei »denen« um Menschen anderer Hautfarbe, anderer sexueller Orientierung oder anderer Religion handelt. Die Einstellungen vorangegangener Generationen wirken – auch durch schriftliche Überlieferungen – auf die Gegenwart ein.
»Unsere Identitäten sind historisch unterschiedlich. Jede Epoche bietet uns verschiedene Rollen an, und diese sind immerzu im Wandel. Probleme sind vorprogrammiert, wenn Menschen einen Teil ihrer Identität absolut setzen «, sagt Horatschek. Über die daraus entstehenden Konflikte liest man jeden Tag im Politik- und Nachrichtenteil der Tageszeitung. Wenn also jemand sagt »Ich bin ein Mann, also MUSS ich mich so verhalten«, oder »Wir sind deutsch, also MÜSSEN wir so sein«, leugnet man die Tatsache, dass Identitäten niemals angeboren, sondern immer kulturell und historisch erworben und damit flexibel sind. Außerdem besteht eine Person aus mehr Puzzleteilen als Geschlecht oder Nationalität.
Vorurteilsbeladene Schriften und schablonenhafte Charaktere verfestigen diese Bilder im Kopf der Lesenden weiter, wie Horatschek erklärt: »Menschen wollen gern in ihren Stereotypen bestätigt werden, das ist bequemer.
Und je weniger man weiß, umso mehr ist man überzeugt, dass das, was man weiß, richtig ist.« Dagegen hilft vor allem eines: Lesen, lesen, lesen.
Denn Literatur kann auch in die andere Richtung wirken. Wer über den Tellerrand blicken möchte, findet im Lesen eine einfache Möglichkeit. Romane lassen Lesende durch andere Augen blicken, in eine andere Identität schlüpfen und können so deren Horizont erweitern. »Literatur ist das Labor unserer Kultur«, sagt Horatschek, »denn sie zeigt immer Einzelfälle, die für unsere eigene Orientierung nötig sind.« Wer viele Romane liest, denkt sich immer wieder in andere Personen hinein und kann dadurch seine eigenen Ansichten hinterfragen und reflektieren. Und die beschriebenen Einzelschicksale helfen den Lesenden, die zahlreichen Faktoren im Leben eines Menschen zu erkennen, die seine Identität formen, anstatt ihn auf ein Merkmal zu reduzieren.
Vor allem beim Verstehen anderer Kulturen hilft es sehr, Erzählungen aus eben jenen Kulturkreisen zu lesen. Als Beispiel: Wer sich für die indische Kultur und ihr Gesellschaftssystem interessiert, sollte die Betrachtungen westlicher Romanciers und Zeitungen einmal links liegen lassen. Denn Kategorien wie Geschlecht oder Klasse und sogar Identität werden in Indien anders gesehen als im Westen. Wer diese andere Normalität begreifen möchte, sollte vor allem auch Bücher indischer Autorinnen und Autoren lesen.
Auch als Vizepräsidentin der Hamburger Akademie der Wissenschaften arbeitet Horatschek am Austausch mit Forschenden und Schreibenden aus anderen Ländern und organisiert gemeinsame Treffen. »Nur so können wir die eigenen Begrenzungen, aber auch unser eigenes Potenzial erkennen. Und vor allem realisieren, dass wir für den Rest der Welt „die Anderen“ sind.«
Sebastian Maas
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