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Bildung gegen Armut
Knapp 13 Millionen Menschen in Deutschland gelten als arm. Dabei boomt die Wirtschaft und die Arbeitslosenquote sinkt von Jahr zu Jahr. Ist die Informationstechnologie Ursache für die neue Armut, wie ein Wissenschaftler in einer der ersten unizeit-Ausgaben prophezeite?

Quelle: Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 2018.
Ende der 1990er Jahre warnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die neuen Informationstechnologien Computer und Internet könnten sich zu Armutstreibern entwickeln und Arbeitslosigkeit schaffen. Höhere Anforderungen im Büro etwa würden Teile der Bevölkerung von Jobs ausschließen, Maschinen ungelernte Arbeitskräfte ersetzen. Mangelnde Bildung sei demnach eine Armutsursache.
Dies hat sich nur zum Teil bewahrheitet. Eine Studie des Bonner Instituts für die Zukunft der Arbeit hat ergeben, dass Maschinen Europa im vergangenen Jahrzehnt zwar rund 1,6 Millionen Arbeitsplätze gekostet haben. Gleichzeitig entstanden aber etwa drei Millionen neue Arbeitsplätze durch günstigere Produktion von Waren und den dadurch angekurbelten Konsum. Jobmöglichkeiten verschoben sich vom Fließband zum Dienstleistungssektor: Drei von vier Deutschen arbeiten heute in diesen Branchen. So gesehen sind Computer keine Jobkiller. Das zeigt sich auch in der seit 2005 kontinuierlich gesunkenen Arbeitslosenquote in Deutschland. Zurzeit liegt sie bei 5,1 Prozent der potenziell Erwerbsfähigen, in Schleswig-Holstein sogar darunter (5 Prozent).
Trotzdem gelten fast 16 Prozent der Bevölkerung (in Schleswig-Holstein 14,6 Prozent) als arm. Armut in Deutschland bedeutet, ein Einkommen von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung zu haben. Das sind für einen Single 969 Euro, für ein Paar gut 1400 Euro, für Alleinerziehende mit einem Kind etwas mehr als 1200 Euro. „Hierzulande reden wir von relativer Armut, welche eher ein Ungleichheitsmaß ist“, erklärt Professor Rainer Thiele, Leiter des Forschungsbereichs Armutsminderung und Entwicklung am Institut für Weltwirtschaft. Absolute Armut beginnt laut Weltbank-Armutsschwelle bei einem Tageseinkommen von zwei Dollar, also rund 60 Dollar (54 Euro) oder weniger pro Monat und ist eher für Entwicklungsländer relevant.
Zwischen Wirtschaftswachstum und der Entwicklung der relativen Armut in den reichen Ländern des globalen Nordens besteht kein eindeutiger Zusammenhang. „Wirtschaftliches Wachstum führt nicht pauschal zu einer Armutsreduzierung, wenn sich die Einkommensverteilung nicht verändert“, sagt Rainer Thiele. Bei gleichmäßigem Wachstum für alle Bevölkerungsgruppen bleiben 60 Prozent vom Durchschnittseinkommen eben gleich. Zwar steige der gesamtgesellschaftliche Wohlstand, zum Beispiel auch durch die Globalisierung, einige Teile der Bevölkerung hätten es aber immer schwerer, weil Teilhabe an dieser vor allem eines erfordert: mehr Bildung.
Insofern stimmen die Prognosen von vor 20 Jahren. Auch der sogenannte Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes von 2017 stuft niedrig Qualifizierte zu 31,5 Prozent als Risikogruppe und deshalb als von Armut bedroht ein. Mehr als jeder fünfte Arbeitslose in Schleswig-Holstein, so eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit, hat keinen Schulabschluss, 65 Prozent haben keinen Berufsabschluss. Verheerende Auswirkungen hat die Bildungsmisere auch auf Kinder. Rund 21 Prozent von ihnen leben dauerhaft oder wiederkehrend in Armutslagen, berichtet die Bertelsmann Stiftung.
„Soziale Mobilität über Generationen hinweg ist recht gering“, so Thiele. Das heißt, ist in der Familie kein Geld für Bildung da, haben es die Kinder schwer, wirtschaftlich und gesellschaftlich aufzusteigen. Das betrifft insbesondere Kinder von Alleinerziehenden. Letztere zählt der Armutsbericht sogar zu 43,8 Prozent zu den Risikogruppen. Die Gründe hierfür liegen in einem Geflecht aus fehlender Kinderbetreuung, zu wenig Sozialleistungen, Teilzeitjobs und schlecht bezahlter Arbeit. Der niedrige Mindestlohn und einer der größten Niedriglohnsektoren Europas – acht Millionen Menschen in Deutschland arbeiten darin – sorgen dafür, dass zehn Prozent der Beschäftigten trotz Arbeit an oder unter der Armutsschwelle leben.
Arbeitslose sind hierzulande besonders von Armut betroffen oder bedroht (59 Prozent). Ursächlich dafür ist vorrangig die Ausgestaltung sozialer Sicherung bei Arbeitslosigkeit, sprich Hartz IV. Auch Migration oder Migrationshintergründe beziehungsweise Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Herkunft und Hautfarbe, beginnend in der Schule, spielen eine große Rolle, berichtet Rainer Thiele. Sie werden ebenfalls im Armutsbericht als große Armutsfaktoren (27,7 Prozent) aufgeführt.
Hohe Lebenshaltungskosten in Deutschland wie die explodierenden Mieten in Großstädten tun ein Übriges, um die Armutsquote in den kommenden Jahren zu erhöhen. Thiele schätzt, dass Altersarmut bald als großer Faktor hinzukommt. Das Absinken des Rentenniveaus auf 44,6 Prozent bis 2029 und ein zunehmend überfordertes Sozialversicherungssystem deuten darauf hin. „Wer der relativen Armut in Deutschland wirkungsvoll entgegenarbeiten will, muss das Bildungssystem umgestalten und neue Ideen für den Sozialstaat entwickeln“, resümiert Professor Thiele.
Autor: Denis Schimmelpfennig
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