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Big Data für eine bessere Medizin

Molekulare Informationen bilden die Grundlage für die Medizin der Zu­­kunft. Sie sind quasi das Röntgenbild der Präzisionsmedizin und werden die Krankenversorgung revolutionieren, meint Dr. Friedrich von Bohlen. Beim internationalen Symposium des Exzellenzclusters Entzündungs­forschung skizzierte er diese neue Ära der Medizin.

Mann sitzt vor einer Kamera, rechts im Bild ist eine Person von hinten im Anschnitt zu sehen..
© Sascha Klahn

Der Biochemiker, Neurobiologe und Unternehmer Friedrich von Bohlen war Gastreferent beim internationalen Sym­posium des Exzellenzcluster Entzündungsforschung.

unizeit: Warum reden derzeit alle über Präzisions­medizin?

Dr. Friedrich von Bohlen: Präzisionsmedizin ist ver­mut­lich nicht weniger als der größte Paradigmen­wechsel, den es in der Medizin jemals gegeben hat. Denn zwei Dinge werden sich dramatisch ändern. Auf der einen Seite gibt es eine völlig neue Informationsklasse, die für die medizinische Versorgung relevant ist. Das sind molekulare Informationen, also zum Beispiel genetische Informationen, Proteine oder Stoffwechselprodukte. Wissenschaftlich erforscht werden sie schon seit Langem, aber im mediznischen Alltag spielen sie bisher nur eine untergeordnete Rolle. Wenn Sie wollen, erlauben sie ein molekulares Röntgenbild.

Es hilft Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln. Der andere Aspekt ist die Digitalisierung, das heißt die vollständige Transformation aller Prozesse in die digitale Welt und das Hinzukommen anderer persönlicher digitaler Daten in eine gesamtheitliche Betrachtung.

Diese beiden Aspekte – die molekulare Dimension und Daten – werden zusammen mit all den anderen bisher schon genutzen klinischen Daten die Medizin grundlegend verändern. Das betrifft nicht nur die Diagnose und Therapie von Krankheiten. Präzisionsmedizin wird die Erstattungssysteme der Krankenkassen komplett verändern, ebenso die Art und Weise, wie pharmazeutische Unternehmen Medikamente entwickeln. Sie wird Auswirkungen auf die Überwachung der Arzneimittelprüfung haben und die Möglichkeiten erweitern, wie Betroffene sich selbst über ihre Krankheit und den Umgang damit informieren können.

Was glauben Sie, wird sich diese Idee der Präzisionsmedizin in den klinischen Alltag überführen lassen?

Ein umfassendes, ganzheitliches Verständnis des molekularen Status eines Patienten oder einer Patien­tin ist der Schlüssel einer wirklich ursachengerechten Diagnose und Therapie. Ich bin daher überzeugt davon, dass dies Teil der Routine in der Gesundheitsversorgung werden wird. Aufgrund der Komplexität der Daten und Informationen wird dies einhergehen mit neuen in­ formationstechnischen Sys­temen. Sie müssen diese Informationen integrieren, evaluieren und in Optionen und Empfehlungen über­ setzen ­können.

Die Fragen sind, wie bringt man das zur Routine, wie profitieren Patientinnen und Patienten davon, wie ändert sich das Kostenerstattungssystem und was wird die Rolle der Krankenhäuser sein. Zunächst wird diese neue Medizin in Zentren stattfinden, die über die benötigten Ressourcen und entsprechend qualifiziertes Personal verfügen. In der Krebsbehandlung wird die Präzisionsmedizin zum Teil schon angewandt, das heißt, die Wahl des Therapeutikums richtet sich nach dem individuellen molekularen Profil. Im Anschluss an eine solche Therapie liefert die Verlaufskontrolle weitere wertvolle Informationen, die für die weitere Behandlung von Bedeutung sind.

Bitte erklären Sie die Rolle der Krankenhäuser dabei.

Im Krankenhaus wird durch dieses neue Vorgehen eine große Menge all dieser bisherigen und neuen Informationen über Patientinnen und Patienten gesammelt. Diese Daten können auch wichtig für die Entwicklung neuer Arzneistoffe sein. Denn die pharmzeutische Industrie wird auf dieser Grundlage viel besser ihre Wirkstoffkandidaten entwickeln können. Behandlungsgruppen können zukünftig entsprechend dem zu einem Wirkstoff passenden molekularen Profil gebildet werden anstatt durch zufällige Einteilung wie bisher. Dadurch werden weniger Personen für Studien benötigt, um Unterschiede zwischen den Gruppen erkennen zu können. Und Studien werden erfolgreicher verlaufen. Damit wird die Entwicklung neuer Therapeutika schneller und günstiger sein können als bisher. Krankenhäuser werden in Zukunft also nicht nur der Ort für die Therapie, sondern auch von großer Bedeutung für die Medikamentenentwicklung sein, weil sie über die hierfür benötigten Daten und Informationen verfügen.

Voraussetzung ist natürlich, dass Patientinnen und Patienten der Verwendung dieser Daten zustimmen. Davon kann vermutlich ausgegangen werden, da ja alle von sehr präzisen, zielgerichteten und günstigeren Therapeutika profitieren. Wenn zum Beispiel Krebskranke die für sie beste molekular verifizierte Arznei bekommen, ist die Wahrscheinlichkeit für den Erfolg der Therapie höher als bei Wahl des Therapeutikums allein aufgrund klassischer klinischer Diagnosekriterien.

Wo erwarten Sie den größten Fortschritt in der Präzisionsmedizin?

Jede Erkrankung hat eine molekulare Komponente. Bei Krebserkrankungen ist das zielgerichtete Vorgehen bereits akzeptiert. Aber auch bei anderen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen, Entzündungserkrankungen, neurologischen Erkrankungen sowie Diabetes und anderen metabolischen Erkrankungen sind Ansätze der Präzisionsmedizin sinnvoll. Realistisch betrachtet wird es zunächst vor allem dort eingesetzt werden, wo der medizinische Bedarf am höchsten und das meiste Geld vorhanden ist. Das sind Krebserkrankungen, Erbkrankheiten und neurologische Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer und andere neurodegenerative Erkrankungen.

Das Interview führten Dr. Tebke Böschen und Kerstin Nees.

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