
Eins mit der Reinen Mathematik
In der modernen Welt steckt immer mehr Mathematik. Und Detlef Müllers persönliche Welt ist ohnehin schon seit Jahrzehnten voll davon. Dabei hätte der Weg des Mathematikers, der jüngst zum Seniorprofessor der Uni Kiel ernannt worden ist, durchaus auch in andere Richtungen führen können.

Detlef Müller ist ein Mathematiker von internationalem Ruf.
»Mich interessierte vieles«, erinnert sich Professor Müller an seine frühen Jahre und nennt ein Spektrum von der Mathematik über die Physik bis hin zur Kunst. Tatsächlich schrieb sich der junge Mann, der im Jahr 1967 an seinem Gymnasium in Osnabrück eines der bis dahin besten Abis gemacht hatte, an der Universität Bielefeld gleichzeitig in Mathe und Physik ein.
Bis er nach dem Vordiplom zu einer Erkenntnis kam, die im Grunde das Motiv seines Lebens ist: »Mich begeisterte am Ende doch mehr die Theorie.« Und so ist Müller also Mathematiker geworden. Nicht irgendeiner, sondern einer, der auf den Spuren der ganz Großen seiner Zunft wandelt.
Das gilt besonders für die Zeit von 1988 bis 1992, als er dank eines Heisenberg-Stipendiums innerhalb seiner Tätigkeit für die Universität Bielefeld an verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen in den USA Erfahrungen sammelte. Heraus ragt zweifelsfrei seine einjährige Mitgliedschaft im Institute for Advanced Study in Princeton. Der berühmte Albert Einstein war hier schon tätig oder auch Spitzenleute wie Kurt Friedrich Gödel (1906–1978), der außerhalb der Mathematik weniger bekannt ist, jedoch der bedeutendste mathematische Logiker seiner Zeit sein dürfte. Ebenfalls in diese Riege gehört John von Neumann, einer der führenden Mathematiker und Logiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er leistete fundamentale Beiträge unter anderem zur Grundlegung der Quantenphysik und der Spieltheorie. Außerdem entwickelte von Neumann als Erster das Prinzip eines programmierbaren Computers und baute am Institut auch einen solchen.
»Es ist schon ein in gewisser Weise erhebendes Gefühl, an einem Platz arbeiten zu dürfen, wo schon so viele der ganz Großen gewirkt haben«, bekennt Professor Müller, für den diese Personen auch umschreiben, wie weit das Feld der Mathematik ist. »Und das mehr denn je«, betont Detlef Müller, der in seinen Spezialdisziplinen seinerseits internationalen Ruf genießt. Geradezu rapide entwickelt sich die Mathematik nach seiner Einschätzung, es eröffnen sich immer neue Anwendungsfelder und Fragestellungen, besonders durch die Digitalisierung. Die Physik, die Ingenieurwissenschaften, die Biologie, die Informatik, selbst die Wirtschafts- und die Literaturwissenschaft – und ohnehin weite Teile der privaten Wirtschaft – sind nach seinen Worten dringend auf die Mathematik angewiesen.
Dass er selbst scheinbar so gar nicht zu denen gehört, deren Arbeit in die Praxis wirkt, stört Müller keineswegs. »Wofür die Theorie einmal gut sein kann, das stellt sich gerade in der Mathematik oft viel, viel später heraus«, begründet er diese Gelassenheit. Als Beispiel nennt Müller die Zahlentheorie, die um das 19. und 20. Jahrhundert aufkam. Lange Zeit war für sie überhaupt keine Anwendung in Sicht, dennoch galt sie laut Müller »für viele als Krönung der Mathematik«. Heute hat sich zudem der vermeintliche Makel der fehlenden Anwendung gründlich gewandelt. Die Zahlentheorie bildet die Grundlage für Codierung und Kryptografie, für Verfahren also, ohne die weder Online-Banking noch sonst eine netzgebundene Aktivität möglich wäre, die ein hohes Maß an Datensicherheit erfordert.
Auch Müller, der als einer der profiliertesten und international renommiertesten Vertreter der Harmonischen Analysis gilt, berührt trotz seiner Orientierung an der Theorie immer wieder auch die Praxis. Die Harmonische Analysis ist in der Reinen Mathematik von zentraler Bedeutung, wenn auch für Nichtfachleute schwer zu verstehen. Zum Beispiel lassen sich mittels der von dem 1830 verstorbenen Mathematiker Joseph Fourier entwickelten sogenannten Fourier-Analyse akustische Signale gemäß ihrer Frequenzverteilungen zerlegen und als Überlagerungen von Sinus- und Cosinuskurven darstellen. »Das ist wie bei den Schwingungen einer Saite, die in einen Grund- sowie diverse Obertöne aufgespalten werden können, die dann das Klangbild des Instruments bestimmen«, erläutert der Experte. Wichtig bei dieser vielfältig anwendbaren Analyse ist am Ende vor allem, dass sie es ermöglicht, die einzelnen Teile wieder zusammenzusetzen.
Komplex ist das Geschehen allemal – aber auch mitten im Alltag: Ohne die Erkenntnisse und Methoden der Harmonischen Analysis und verwandter Gebiete wäre es nicht möglich, Filme, Bilder, Musik und andere digitale Daten so zu komprimieren, dass sie vernünftig übers Internet übertragen werden können. Auch hier geht es schließlich darum, Signale zu zerlegen, um sie später zu rekonstruieren.
Seine Zeit als Seniorprofessor will Detlef Müller für spannende Projekte nutzen, vor allem gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs: »Die Arbeit mit jungen Leuten hat mir immer besonderen Spaß gemacht, und so ist das bis heute.«
Autor: Martin Geist
Zur Person
1954 im südniedersächsischen Städtchen Dissen geboren, aufgewachsen in Nordrhein-Westfalen, studiert in Bielefeld, 1981 promoviert und 1984 habilitiert: So lässt sich die frühe Zeit von Detlef Müller in Jahreszahlen umreißen. Der 68-jährige Mathematiker machte 1979 sein Mathematik-Diplom an der Universität Bielefeld, für die er später – inklusive ausgedehnter Auslandsaufenthalte – auch wissenschaftlich tätig war. Von 1992 bis 1994 arbeitete er als Professor an der Université Louis Pasteur in Straßburg, ehe er im Jahr 1994 seinen Dienst als C4-Professor für Analysis an der Christian-Albrechts-Universität Kiel antrat.
Nach dem Ende seiner aktiven Dienstzeit am 31. März 2022 wurde Müller für zunächst zwei Jahre zum Seniorprofessor ernannt. Diese Ernennung wird nur ausgewählten Personen mit großen wissenschaftlichen Verdiensten zuteil und gilt als hohe Auszeichnung.
Müller ist seit 2018 Fellow of the American Mathematical Society (AMS). Aus dem deutschsprachigen Raum wurden bislang nur etwa 25 Personen in diesen Kreis aufgenommen.
Als Seniorprofessor genießt der Theoretiker nun einen besonderen Status. Er verfügt kurz gesagt über viele Freiheiten, muss aber keine Pflichten etwa in Form von Gremienarbeit übernehmen. Professor Müller ist an der Uni Kiel zusammen mit überwiegend jüngeren Menschen nach wie vor in verschiedenen Arbeitsgruppen der Harmonischen Analysis tätig und arbeitet derzeit an mehreren neuen Forschungsprojekten. (mag)
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