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Pädagogisch sinnvolle Digitalisierung

Wird die Corona-Krise der Digitalisierung der Bildung zum Durchbruch verhelfen? Für Professorin Heidrun Allert wäre das zu kurz gegriffen. »Eine Ausnahmesituation kann nicht der Gradmesser dafür sein«, meint die Wissenschaftlerin, die in der Pädagogik ebenso zuhause ist wie in der Informatik.

Junge mit Cyberbrille
© iStock/gorodenkoff

Um digitale Bildung richtig zu machen, sollte man auch pädagogisch durch die entsprechende Brille schauen, meint Professorin Heidrun Allert.

Sachen mit dem Computer und dem Internet machen. Das ist für gar nicht so wenige Menschen schon die ganze Digitalisierung. Dem entgegnet Heidrun Allert: »Es gibt nicht die EINE Form von Digitalisierung, sondern gänzlich unterschiedliche Technologien, digitale Wissenspraktiken, Geschäftsmodelle und Formen digitaler Beteiligung. Also müssen wir erst einmal wissen, worüber wir reden und was wir meinen. Homeschooling mithilfe des Netzes ist zum Beispiel etwas ganz anderes als die von digitalen Technologien gestützte alltägliche Interaktion im Klassenzimmer. Forschendes Lernen ist etwas anderes als Instruktionsvideos.«

Digital oder nicht digital, für die diplomierte Pädagogin mit Promotion in Informatik ist das gar nicht die entscheidende Differenzierung. »Welche Formen von Bildung, Lernen und digitalen Wissenspraktiken wir uns wünschen und welche nicht, das ist die eigentliche Frage«, betont sie. Wichtig sind dabei aus ihrer Sicht solche Fragen: »Was können Lernende über die Technologien, die sie nutzen, und über die Dateninfrastrukturen in Bildungssystemen in Erfahrung bringen? Welche Modelle liegen diesen zugrunde und welche Fragen sollen mit den Daten beantwortet werden?« Bei solchen Technologien sei entscheidend, wie »Lernen« und »Bildung« modelliert und datafiziert werden. Meist werden nach Angaben von Allert bisher mit Daten zum Beispiel aus der Messung der Herzfrequenz so einfache Dinge gemessen wie Aufmerksamkeit. Gesichtserkennungstechnologien zur Anwesenheitsüberprüfung sind bereits in den USA und Australien im Einsatz. Die Konzepte, Logiken, Analyse-Tools und Algorithmen stammen oft aus Bereichen wie Marketing, Engineering und Business Intelligence.

»Lernen und Bildung sind allerdings sehr komplexe Gegenstandsbereiche«, betont die Kieler Professorin. Umso wichtiger sei deshalb ein über die Wissenschaft hinaus in der gesamten Gesellschaft geführter Diskurs über das, was Digitalisierung in der Bildung leisten soll. Pures Homeschooling, das im Wesentlichen den analogen Unterricht auf Bildschirme in den Kinderzimmern bringt, macht nach fast übereinstimmender Sicht der Fachleute die Ungleichheit eher noch größer. »Und das, obwohl wir Schülerinnen, Schüler und Studierende an Wissens- und Datenpraktiken aktueller Netzkultur und Wissenschaft heranführen sollten«, beschreibt Heidrun Allert das Dilemma. Zudem wartet unbedacht angegangene Digitalisierung mit weiteren Tücken auf. Wer etwa Wissen so vermittelt, »als sei unsere Welt eine stabile«, begibt sich aus ihrer Sicht so oder so auf den Holzweg. Sich das Wissen am besten gemeinsam mit Schülerinnen, Schülern und Studierenden zu erschließen und dabei zu verinnerlichen, »dass wir uns in einem Zustand der kontinuierlichen Transformation von Welt befinden«, so ungefähr stellt sie sich eine Digitalisierung mit Sinn vor.

Homeschooling mithilfe des Netzes ist zum Beispiel etwas ganz anderes als die von digitalen Technologien gestützte alltägliche Interaktion im Klassenzimmer. Forschendes Lernen ist etwas anderes als Instruktionsvideos.

Heidrun Allert

Der Umgang mit stetiger Veränderung bedeutet dabei auch für die Universitäten eine Herausforderung. Einerseits, so Allert, haben die Hochschulen die Digitalisierung und speziell das Internet von Anfang an maßgeblich mitentwickelt und dessen prägende Prinzipien auf die heutzutage hoch vernetzte Forschung übertragen. Andererseits haben sich nach ihrer Wahrnehmung Forschung und Lehre ein Stück weit entkoppelt, was unter anderem bedeutet, dass die Vermittlung von Wissen und Praktiken des Lernens immer noch stark im analogen Denken vonstatten geht. Das allerdings beruht nach ihrer Vermutung »nicht so sehr auf mangelnder Kompetenz Lehrender, die ja zugleich Forschende sind«. Vielmehr sollten auch Machtfragen in den Mittelpunkt gerückt werden, schlägt Heidrun Allert vor und denkt dabei an multinationale Digitalkonzerne, die den Anspruch erheben, öffentliche Aufgaben besser erledigen zu können als staatliche oder kommunale Organe. Wenn aber aus Bildung »Precision Education« wird, die von der individuellen Genetik bis zur sozialen Umgebung gewaltige Datenpakete zur personenbezogenen Lernoptimierung schnürt, sind mehr als nur Bedenken angebracht, meint die Wissenschaftlerin. »Bildung lässt sich schwerlich durch unterkomplexe Optimierungsmodelle erreichen«, argumentiert Allert und verweist zugleich auf die besondere Qualität der etablierten öffentlichen Bildungseinrichtungen, »mit Unbestimmtheit und Wandel demokratisch umzugehen.«

Allert und ihr Team für Medienpädagogik und Bildungsinformatik an der Uni Kiel betrachten die Digitalisierung der Lehre unterdessen nicht als den Transport von alten Inhalten in neuer Verpackung, sondern sie freuen sich »auf offene Prozesse des Forschens« gemeinsam mit den Studierenden. »Wir lernen derzeit viel«, verweist sie auf einen Prozess, der durch die Corona-Krise durchaus beschleunigt worden ist.

Autor: Martin Geist

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