
Geschichten vom Meer
Erzählungen – egal ob wahr oder erfunden – prägen unsere Vorstellungen vom Meer. Und sie können sich auf unseren Umgang mit dem Ozean auswirken. Wie vielschichtig das Thema ist, zeigte eine Ringvorlesung der Uni Kiel, aus der ein Buch hervorgegangen ist.

Sehnsuchtsort oder Bedrohung, vielfältiger Lebensraum oder Müllhalde: Das Meer ist nicht einfach nur Meer. Unsere Vorstellung vom Meer werden maßgeblich von Geschichten und Erzählungen geformt.
»Der unendliche Ozean«, »die Schätze der Tiefsee«, »die Freiheit der Meere« – Phrasen wie diese prägen unsere Vorstellung vom Meer. Und sie bedingen auch unser Verhalten. »Wenn das Meer endlos ist, dann kann man da auch Müll reinkippen«, sagt die Politikwissenschaftlerin Professorin Aletta Mondré, um zu erklären, dass es nicht egal ist, welches Bild wir vom Ozean haben. Dieses Bild werde maßgeblich von Geschichten und Erzählungen über das Meer geformt. »Es gibt unzählige Reiseberichte, Logbücher, Romane, die etwas mit dem Meer zu tun haben. Unser konkretes Interesse gilt den unterschiedlichen Wahrnehmungen des Ozeans sowie der Rolle von Narrativen in der Bewusstseinsbildung für einen nachhaltigeren Umgang mit dem Ozean«, ergänzt Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani, die wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich für Internationale Politische Soziologie ist.
Gemeinsam mit Dr. Franziska Julie Werner, die die Ocean-Education-Initiative des Forschungsschwerpunktes Kiel Marine Science an der Universität Kiel koordiniert, organisierten sie im Wintersemester 2019/2020 die Ringvorlesung »Der Mensch und das Meer: Wie Erzählungen unseren Umgang mit dem Ozean beeinflussen«. »Wir haben hier aus ganz unterschiedlichen Perspektiven einen Blick auf das Meer geworfen«, so Kronfeld-Goharani. Dabei gingen sie unter anderem der Frage nach, ob das Erzählen von Geschichten bestimmte Handlungen erst möglich gemacht hat. Aufbauend darauf wurde diskutiert, welche Art von Meereserzählung ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit schult und unterstützt. Beiträge aus dieser Ringvorlesung wurden Ende 2020 in einem Buch veröffentlicht. Es beinhaltet eine Reihe von Erzählungen und Narrativen, die Rückschlüsse auf unseren Umgang mit konkreten Herausforderungen in der Meeres- und Klimapolitik erlauben und mögliche Handlungsoptionen enthüllen. Themen sind etwa die Rolle des Schiffs als Arbeitsplatz oder als inszenierte Erlebniswelt in der Kreuzfahrtindustrie oder Geschichten vom Walfang, der Fischerei und dem Plastikmüll.
Das Beispiel Fischerei zeigt deutlich, wie festgelegt die Vorstellungen sein können. In seinem Vortrag hat sich Dr. Christopher Zimmermann vom Thünen-Institut für Ostseefischerei, Rostock, »das Narrativ von den leergefischten Meeren« vorgenommen. »Er hat aufgeführt, welche Arten das betrifft, was Fangquoten bewirken, und hat nachprüfbare Daten bereitgestellt. Er hatte aber keine Chance, mit seinen Fakten – zum Beispiel der Tatsache, dass der Anteil der überfischten EU-Bestände von 2004 bis 2014 um 19 Prozent gesunken ist – durchzudringen, weil alle davon überzeugt waren, dass das Meer überfischt ist. Man kann solche Einstellungen nicht einfach abändern, indem man Informationen zur Verfügung stellt«, betont Mondré. Und Zimmermann selbst schreibt dazu in seinem Aufsatz: »Die Wahrnehmung von der Fischerei als Ursache allen Übels ist inzwischen so eingeführt, so sehr Allgemeinwissen, dass Belege für die Aussagen völlig entbehrlich sind.« Umso wichtiger sei es daher, die Narrative zu durchleuchten und die begründbaren von den rein ideologischen zu trennen.
Fakt ist, so Mondré, »Erzählungen sind ein ganz wichtiges Medium, um Informationen weiterzugeben und Verhaltensweisen zu vermitteln. Ich kann mich mit einer Figur identifizieren, emotional Anteil nehmen und das Verhalten gutheißen oder ablehnen.« Ein Vorteil der erzählerischen Herangehensweise ist auch, dass komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge für die Allgemeinheit besser verständlich dargestellt werden können. »Dabei kann man durchaus auch Spannung erzeugen«, findet Kronfeld-Goharani, »weil Geschichten, die zwar vom wissenschaftlichen Standpunkt aus vereinfacht, aber dafür spannend erzählt sind, eher hängenbleiben.«
Durchaus möglich, dass zukünftig Sätze wie »der Ozean steht vor dem Kollaps« oder »im Jahr 2050 wird es mehr Plastik als Fisch im Meer geben«, unsere Vorstellung vom Meer dominieren. Inwieweit sich dadurch Ansätze zum nachhaltigen Umgang mit dem Ozean durchsetzen, bleibt abzuwarten.
Autorin: Kerstin Nees
Zum Weiterlesen: Ulrike Kronfeld-Goharani, Aletta Mondré, Franziska Julie Werner (Hg.): Der Mensch und das Meer. Wie Erzählungen unseren Umgang mit dem Ozean beeinflussen. Wachholtz Verlag Kiel 2020
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