Der Geschmack von Farben

Ein Leben so ganz ohne Soziale Medien gibt es in dieser Gesellschaft eigentlich kaum noch. Wie aber gestaltet der Mensch die zunehmend unvermeidliche digitale Seite seines Daseins? Und was macht das mit ihm?

Zwei Fotos von Nahrungsmitteln
© instagram

Gefilterte Wirklichkeitsnähe. Zutaten und Ergebnis des Projekts Hefezopf erreichen die Öffentlichkeit via Instagram in nachbearbeitetem Zustand. Damit es echter aussieht.

Im Herbst 2017 startete an der Uni Kiel das vom Bundesministerium für Forschung und Bildung geförderte Projekt »Onlinelabor für Digitale Kulturelle Bildung«. Unter Regie der Abteilung für Medienpädagogik und Bildungsinformatik des Instituts für Pädagogik sowie des Kunsthistorischen Instituts der Uni Kiel entstand in der Folgezeit eine Erhebung, die fernab aller Zählerei von Emojis und Klick-Quoten auf den qualitativen Kern der Sache zielt: Auf die Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der wie auch immer gearteten Welt um es herum.

Unter dem Motto »Zeige Deine Welt! Entdecke Vielfalt! Gestalte digitale Kultur!« entstand ein »Atlas Sozialer Medien«, der digital ebenso wie als Buch nach dem Print-on-Demand-Prinzip Raum bietet, anderen und ihren Erfahrungen zu begegnen und sich selbst zu verorten. Das mag sich erst einmal abstrakt anhören, zielt aber auf recht handfeste Dinge. »Uns hat interessiert, wie die Menschen ihre Erfahrungen und ihr Erleben teilen«, erklärt Christoph Schröder, der in dem Projekt eine medienpädagogische Perspektive vertrat.

Gearbeitet wurde dabei eingebettet in sogenannte Forschungswerkstätten. Insgesamt mehr als 100 Teilnehmende verschiedener Altersgruppen wurden eingeladen, konkrete Erfahrungen aus ihrem digitalen Alltag zu teilen. Dazu erfüllten sie mit Sozialen Medien verbundene Aufgaben. Letztlich hat es ein Teil der auf diese Weise entstandenen etwa 70 Beiträge in den »Atlas Sozialer Medien« geschafft, wobei diese Auswahl eine inhaltliche Breite widerspiegeln soll.

So kommt auf die Frage, wie ein »gewöhnliches Posting« aussieht beziehungsweise entsteht, unter anderem ein Hefezopf zu Ehren. Unter dem Motto »Ich backe mir einen Post« veröffentlicht die Autorin auf Instagram eine kleine Bilderreihe über dessen Werdegang von der mit diversen Zutaten angereicherten Teigmasse bis zum fertigen Produkt. So banal das anmuten mag, so komplex ist das, was damit verbunden ist. Unter anderem schreibt die Autorin: »Ich wünschte mir, dass sowohl Zutaten als auch fertiges Produkt möglichst so aussahen, wie ich sie (ohne Kamera) wahrnahm. Ohne Filter gelang es mir nicht, dieses Ziel zu erreichen.« Damit ein Motiv also aussieht wie es ist, wird es verfremdet, lautet letztlich die Logik, die noch weitere mit den Ansprüchen Sozialer Medien verbundene Herausforderungen annehmen muss. Weil ein Foto zum Beispiel nicht abbilden kann, wie ein Hefezopf riecht oder schmeckt, ging es der Urheberin beim Posten darum, »wie es aussah, dass es schmecken würde«. Also brachte sie die Farben des Backwerks mittels Bildbearbeitung zum Leuchten.

Laut Nick Böhnke, der sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Uni Kiel aus bildtheoretischer Perspektive den Praktiken in den Sozialen Medien annähert, beschreibt ein verbreitetes Muster. »In der Kommunikation durch Soziale Medien wird den anderen die eigene unmittelbare Erfahrung oft durch Bilder vermittelt«, beschreibt er die Notwendigkeit, Gefühle, Gerüche, Geschmäcker und vielerlei andere Wahrnehmungen übers Visuelle zu transportieren.

Kaum anders läuft das mit der Spontaneität, die unzähligen Fotos auf Instagram, Facebook oder durchaus auch auf privateren Kanälen wie WhatsApp anzuhaften scheint: Oft wirkt etwas wie spontan aus der Situation heraus – und ist in Wahrheit doch sorgsam arrangiert.

Für die Projektverantwortlichen, zu denen auch der Psychologe Christoph Richter, die Kunsthistorikerin Martina Ide und als Herausgeberin des Buches Heidrun Allert, Professorin für Pädagogik und Bildungsinformatik, gehören, bedeutet solches Arrangieren aber nicht unbedingt schnödes Manipulieren in »Fake-News-Manie«. Tatsächlich kündet der teils mit geradezu poetischen Sprachbeiträgen aufwartende Atlas vom unbedarft wirkenden Schnappschuss vor der Almhütte bis zu einem im Gegenlicht aufgenommenen Bild der regenlosen Stadt Frankfurt und etlichen weiteren Beispielen von der Logik Sozialer Medien: Ein Beitrag wird oftmals verfremdet, damit er echt wirkt.

Autor: Martin Geist

Zum Weiterlesen:

Böhnke, Nick et al. (Hrsg.): Atlas Sozialer Medien: Verortungen in den Weiten digitaler Kultur. Universitätsverlag Kiel | Kiel University Publishing 2022. Im Buchhandel als gebundenes Buch erhältlich und als PDF zum kostenlosen Download unter bit.ly/atlas-sozialer-medien.

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