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»Es geht immer um das gesamte Individuum!«

Seit April ist Professor Joachim Thiery hauptamtlicher Dekan der Medizinischen Fakultät der Uni Kiel. Im unizeit-Interview äußert er sich zur Weiterentwicklung der Lehre und zu Zukunftsthemen der Forschung.

© UKSH

Joachim Thiery, Labormediziner und Dekan der Medizinischen Fakultät der CAU

unizeit: Herr Professor Thiery, als Dekan sind Sie quasi Chef der Medizinischen Fakultät. Das heißt, Sie sind seit April in erster Linie Manager und nicht mehr Forscher, Lehrer und aktiver Arzt. Wie finden Sie das?

Joachim Thiery: Spannend! Ich freue mich darüber, meine Erfahrungen, die ich an verschiedenen Universitätsklinken im In- und Ausland sammeln durfte, jetzt für die Leitung der herausragenden Medizinfakultät der Universität Kiel und für das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein einsetzen zu dürfen. Die Liebe zu Forschung und Lehre und das Bestreben, etwas Gutes für Patientinnen und Patienten zu tun, hat und wird mich dabei nie verlassen. Die Universitätsmedizin ist ein sehr komplexes Organisationsgebilde mit vielen Schnittstellen. Es müssen hier ständig neue Anpassungen erfolgen, um die Prozesse für Forschung, Lehre und Krankenversorgung erfolgreich weiterzuentwickeln.

Welche Aufgaben liegen Ihnen besonders am Herzen?

Es sind zwei Themen, die mich besonders bewegen. Das eine ist die Förderung des medizinischen Nachwuchses, das andere ist die Translation neuen Wissens in die medizinische Anwendung. Und beides hängt auch zusammen. Wir benötigen in der Universitätsmedizin Perspektiven für junge Menschen, und zwar interprofessionell, für junge Ärztinnen und Ärzte ebenso wie für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, für die Pflege und die medizinischen Funktionsdienste. Ich bin sehr froh, dass es in Kiel und Lübeck mit Unterstützung der Landesärztekammer bereits gelungen ist, ein Clinical-Scientist-Weiterbildungsprogramm auf den Weg zu bringen. Dieses Programm schafft Anreize für den forschenden Arzt und die forschende Ärztin, die für die Zukunft der Universitätsmedizin und den qualifizierten Leitungsnachwuchs dringend benötigt werden. Selbstverständlich sieht sich die Medizinische Fakultät auch in der Pflicht, für die regionale Versorgung zu werben und die wichtige Aufgabe des Hausarztes oder der Hausärztin herauszustellen. Nach dem Staatsexamen endet üblicherweise die Verantwortung der Universität. Ich möchte hier bessere Übergänge schaffen, sodass das lebenslange Lernen unterstützt wird.

Wie können Sie die Entwicklung von Forschung und Lehre aktiv gestalten?

Forschung entsteht aus Fragestellungen und Zielen, die eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler sich setzt, systematisch verfolgt und auch wieder verwerfen kann. Erfolgreiche Forschung lebt daher von Weitblick und der Fähigkeit Schwerpunkte zu setzen ebenso wie vom kontinuierlichen, weltweiten Informationsaustausch. Ich sehe es als meine Aufgabe an, den Entdeckergeist in der Medizin für die Klinik und die Grundlagenforschung zu fördern. Ebenso aber auch die Bereitschaft zur Anwendung, zur Translation der Grundlagenforschung.

Das Land hat der Fakultät mit seinen langfristigen Zielvereinbarungen eine gute Perspektive gegeben, wofür ich dankbar bin. Kiel hat mit begrenzten Mitteln bereits Einzigartiges zustande gebracht, ich denke hier vor allem an den Exzellenzcluster. Aber es gibt natürlich immer noch Luft nach oben. Neben Forschungsgruppen ist es mein Ziel, einen oder besser zwei Sonderforschungsbereiche ins Laufen zu bekommen.

Wo wollen Sie inhaltliche Schwerpunkte setzen?

Die digitale Medizin, und damit auch die Systemmedizin, ist das Leitthema der Medizinischen Fakultät. Hier werden beispielsweise mit Hilfe der Bio- und Medizininformatik neue Entdeckungen über den Weg der Translation in immer präzisere und individuellere medizinische Anwendung überführt. Konkret handelt es sich um die Bereiche der Entzündungsmedizin, der Kardiologie, der Neurologie und der Krebsforschung. Hierzu zählen in Kiel und Lübeck heute schon weltweit beachtete Anwendungen physikalischer und biochemischer Methoden in der Bioanalytik, die Entwicklung einer zellbasierten Therapie und innovative Ansätze der künstlichen Intelligenz.

Wir haben schon damit begonnen, unsere Stärken und Schwächen zu ermitteln und darüber zu diskutieren, welche Themen zukünftig besonderes Potenzial haben. Die Heterogenität der Medizin ist ja enorm. Mir geht es darum, zu helfen Forschungsfragen zu fokussieren, also auf einen Punkt zu bekommen. Das ist hier mit dem Thema Entzündung ganz wunderbar gelungen. Es gibt aber noch weitere Themen, die sich entsprechend fokussieren lassen. Spannend finde ich zum Beispiel die Entwicklung hier in der Neuromedizin mit dem Schwerpunkt Bewegungsstörung.

Und es gibt hochaktuelle Ansätze mit moderner zellbasierter Therapie. Das ist ein ganz großes Zukunftsthema, welches wir in der Krebsmedizin bewusst stärken wollen. Methodische Entwicklungen wie die CRISPR/CAS-9-Technologie erlauben heute, mit einer Art molekularer Schere veränderte DNA-Abschnitte in Zellen auszuschneiden und durch »gesunde« DNA zu ersetzen. Erste Erfolge sind bereits bei Leukämie-Erkrankungen zu verzeichnen. Hier wollen wir mittelfristig eine eigene Kieler Expertise für die klinische Medizin aufbauen.

Ein weiteres großes Thema ist die Systemmedizin. Gesundheit und Krankheit sind heute nicht mehr allein auf ein Organ bezogen, sondern auf das gesamte System. Bei der Frage nach den Ursachen findet man in der Evolutionsbiologie überaus spannende Ansätze. Und die exzellente Kieler Mikrobiomforschung wird uns dazu noch eine bisher kaum bekannte Welt der Interaktion eröffnen.

Sie haben angesprochen, dass Ihnen die Weiterentwicklung der Lehre sehr wichtig ist. Welche Reformen streben Sie an in Anbetracht der komplexer werdenden Medizin?

Wir stehen vor der Reform der Approbationsordnung für die medizinische Lehre, die wahrscheinlich 2025 in Kraft treten wird. Der Nationale Lernzielkatalog ist, auch mit Kieler Beteiligung, jetzt fertiggestellt worden. Unser Bestreben in der Lehre ist es dabei, Studierenden so früh wie möglich Kontakt zu Patientinnen und Patienten zu ermöglichen. Wir müssen früh ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir nicht nur Organe und Organfunktionen lernen, sondern dass es immer um das gesamte Individuum geht.

Im Augenblick lassen sich diese Wunschvorstellungen wegen der Pandemie schwer realisieren. Wir werden daher verstärkt praktische Simulationen und problemorientierten Unterricht in der Lehre weiter ausbauen, um medizinische und ärztliche Fähigkeiten und Fertigkeiten besser und kontrollierter einüben zu können. Neben diesen SkillsLabs haben wir bereits in diesem Semester völlig neue telemedizinische Ansätze für die Intensivmedizin und Neonatologie im Unterricht eingeführt.

Medizin kann man an 34 Orten in Deutschland studieren. Hierzu zählen so traditionelle Orte wie Heidelberg, Tübingen oder die Charité in Berlin. Was spricht für Kiel?

Die neue Universitätsklinik, die exzellenten Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer und natürlich die Stadt am Meer haben sich schon herumgesprochen. Es ist allerdings sympathisch festzustellen, dass die Kieler Universitätsmedizin weniger selbst darüber redet, wie gut sie ist, sondern sie überrascht durch herausragende Leistungen in der Krankenversorgung, in der Forschung und nicht zuletzt auch in der Lehre. Das macht Kiel insgesamt so liebenswert.

Das Interview führte Kerstin Nees

Joachim Thiery übernahm am 1. April 2020 das Amt des hauptamtlichen Dekans der Medizinischen Fakultät der Uni Kiel von seinem Vorgänger Ulrich Stephani. Thiery ist auch wissenschaftlicher Direktor und Sprecher der Campusdirektion des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, und Vorstandsmitglied des UKSH. Bis 2019 leitete Thiery als Direktor das Institut für Laboratoriumsmedizin, Klinische Chemie und Molekulare Diagnostik des Universitätsklinikums Leipzig. Er war viele Jahre Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig sowie Senator der Universität. Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats begleitet er den schleswig-holsteinischen Exzellenzcluster »Entzündung an Grenzflächen« sowie den aktuellen Exzellenzcluster »Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen/Precision Medicine in Chronic Inflammation« (PMI) seit 2013.

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