
Das »Insektenhotel« der Meere
Mit dem Living-Sea-Walls-Projekt wollen Studentinnen der interdisziplinären Master School of Marine Sciences für neues Leben in überbauten Küstengewässern sorgen.

Schon nach kurzer Zeit im Wasser waren die Kacheln von Algen, Seepocken und Muscheln bewachsen.
Algen, Tang, Miesmuscheln und diverse Kleinstlebewesen: Auf den 30 Betonkacheln, die Studentinnen der Christian-Albrechts-Universität in der Kieler Förde positioniert haben, tummelt sich das Leben – zur Freude des interdisziplinären Teams aus Marinen Geowissenschaftlerinnen und Biologinnen im Projekt Living Sea Walls (lebende Kaimauern). Was genau sich dort angesiedelt hat und wie groß die biologische Vielfalt ist, untersucht Biologiestudentin Lena Böttcher in ihrer Bachelorarbeit nun genauer.
Lösungen und Initiativen für mehr Nachhaltigkeit im Umgang mit dem Ozean zu entwickeln, das war das Oberthema eines interdisziplinären Lehrmoduls im Rahmen der Master School of Marine Sciences (iMSMS) der CAU. Ozeanograph Professor Martin Visbeck und die Meeresökologin Dr. Franziska Werner haben es geleitet. Dabei entstand ein Projekt, das sich mit der Frage beschäftigt, wie man es schaffen kann, angesichts des weltweit großen Verlustes an natürlichen Lebensräumen in Küstengewässern durch Überbauung in Hafenanlagen durch Ökotechnik wieder mehr tierisches und pflanzliches Leben und mehr Artenvielfalt zu etablieren und damit gleichzeitig die Wasserqualität zu verbessern. Im Semester 2020/2021 haben die Marinen Geowissenschaftlerinnen Luisa Franzen und Annabel Payne und die Studentinnen der Praktischen Philosophie der Wirtschaft und Umwelt Rika Maletzky, Paulina Valente und Tamara Friebe sich mit der Thematik beschäftigt und eine Pilotstudie dazu gestartet. Die Biologin Lena Böttcher kam später hinzu.
Ihr Plan: Ähnlich wie beim World Harbour Project (WHP) des Sydney Institute of Marine Science (SIMS) hat das studentische Team in Kooperation mit dem Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung an zwei Standorten in der Kieler Förde insgesamt 30 Betonkacheln mit und ohne strukturierte Oberflächen installiert. »Im Pazifischen Ozean funktionieren die Kacheln sehr gut. Sie sind wie ein Insektenhotel unter Wasser«, erklärt die Australierin Annabel Payne, die die Projektidee aus Sydney mit nach Kiel gebracht hat. Doch werden die Betonkacheln auch im Brackwasser der Ostsee angenommen, in dem es keine Gezeiten gibt und in dem eine komplett andere Flora und Fauna herrscht als vor Australien? Und welche der Kachelarten eignet sich besser zur Bildung eines neuen Lebensraumes für Algen, Muscheln und Co?

Insgesamt 30 Betonkacheln mit und ohne strukturierte Oberflächen wurden für die Untersuchung unter Wasser installiert.
Mit der Auswertung der Studie beschäftigt sich Lena Böttcher intensiv: Die Biologiestudentin schreibt ihre Bachelorarbeit über das Projekt und hat die Kacheln nach drei und nach sechs Monaten in der Förde genau unter die Lupe genommen. »Die erste Frage, ob es auch in der Ostsee eine Besiedlung der Kacheln gibt, lässt sich ganz klar mit ja beantworten«, sagt Böttcher. Tatsächlich sind beide Kachelvarianten – die glatte wie die strukturierte Kachel – von Algen bewachsen, Miesmuscheln und Seepocken haben sich festgesetzt. Selbst Tiere wie Seesterne und Krabben hat sie gefunden – sie haben den neuen Lebensraum unter Wasser angenommen. Welche Variante besser funktioniert hat, versucht Böttcher durch akribische und mikroskopische Feinarbeit herauszubekommen. »Ich bestimme die verschiedenen Arten der Algen, Seepocken und Muscheln sowie der mobilen Weidegänger wie Kleinstkrebse und Asseln, insgesamt die Quantität und die Qualität der Kachelbesiedelung.« Die Herausforderung dabei: »Der Untersuchungszeitraum war relativ kurz gewählt, die Pflanzen sind noch sehr klein«, sagt Böttcher. »Von ersten Pionierpflanzen bis zum artenreichen Regenwald unter Wasser braucht es mindestens ein Jahr oder länger«, ergänzt Annabel Payne.
Für die Marine Geowissenschaftlerin Payne, die nach ihrem Master an der CAU inzwischen in Zürich an ihrer Doktorarbeit schreibt, geht die Arbeit daher weiter: Zusammen mit den Kieler Masterstudentinnen der Marinen Geowissenschaften Luisa Franzen und Lena Jebasinski sowie mit Christian Pape, Fachmann für Nachhaltigkeit und Kohlenstoffabscheidungstechnologie, ist Payne dabei, ein Unternehmen zu gründen – das Start-up Habitile. Das erste Ziel: Weitere 30 bis 40 Kacheln in der Ostsee, in der Nordsee und im Mittelmeer für mindestens ein Jahr zu installieren, um weitere vergleichbare Ergebnisse zur Besiedelung zu erhalten. »Langfristig erhoffen wir uns, die Betonkacheln fest in Häfen installieren zu können«, sagt Payne. Um der Natur ein Stück Lebensraum zurückzugeben.
Autorin: Jennifer Ruske
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