Von der Magie des Lesens

Das Buch im Buch als Schlüssel zu fremden Welten: Wie die Autorin Cornelia Funke mit diesem literarischen Motiv umgeht, erforscht der Germanist Olaf Koch.

Zeichnung einer Elster, die auf einem zugeklappten Buch sitzt.
© Dressler, Cornelia Funke

Sie gehört zu den weltweit besten Autoren und Autorinnen von Kinder- und Jugendliteratur: Cornelia Funkes phantastische Bücher stehen auf der Klassiker-Leseliste – neben »Alice im Wunderland« oder »Harry Potter«. Ihr Roman »Tintenherz« (2003), der Auftakt der Tintenwelt-Trilogie, ist ein mehrfach ausgezeichnetes Fantasybuch. Die abenteuerliche Geschichte um den Buchbinder Mo und seine Tochter Meggie wird durch einen literarischen Kniff der Autorin zu einer ganz besonderen: durch das Buch-im Buch-Motiv. Denn »Tintenherz« heißt nicht nur der Roman von Funke, sondern auch das Buch, um das sich im Roman alles dreht.

Es geht um die Magie des Lesens. Buchbinder Mo und seine Tochter Meggie haben die Gabe des Vorlesens: Mit jeder Zeile öffnet sich die Pforte zur Buchwelt. Die gelesenen Figuren werden lebendig und treten ein in die realfiktive Welt von Meggie und Mo. Aus »1001 Nacht« landet die Figur Farid bei Vater und Tochter. Und aus »Tintenherz« liest Mo den Bösewicht Capricorn und seine Mannen heraus. Die Pforte zwischen den Buchstaben öffnet sich aber auch in die andere Richtung. So ist nach dem Vorlesen nicht nur der Postbote verschwunden, sondern auch Meggies Mutter Reza. Sie im Buch wiederzufinden und zurückzulesen, ist die Aufgabe, die Mo und Meggie lösen müssen. Dafür aber müssen sie das Buch Tintenherz erst einmal in die Finger bekommen. Um seine Rückkehr in die Geschichte zu verhindern, vernichtet Capricorn alle Tintenherz-Exemplare.

Genau das ist es doch, was uns an guten Büchern gefällt, dass wir ganz und gar in einer Geschichte versinken, dass wir in der Handlung mitspielen und mit den Figuren mitfiebern, die uns so vertraut sind, wie liebe Freunde.

Cornelia Funke
Zeichnung eines aufgeblätterten Buches

»Das Buch-in-Buch-Motiv ist in der Literatur nichts Neues«, erzählt Olaf Koch, Lehrbeauftragter am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien. Der Germanist forscht an der Christian-Albrechts-Universität zur Kinder- und Jugendliteratur und Phantastik. Innerhalb der Ringvorlesung »Literarische Welterfolge in deutscher Sprache« an der Uni Kiel referierte er über seine Forschung und das Buch »Tintenherz«. »Dass es in Büchern um Bücher geht, kennt man seit circa 1800«, erläutert Koch. »Damals begann die Literatur, sich selbst zum Thema zu machen.« So beschreibt Goethe die Autorwerdung in »Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre« (1795/96) und im Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« (1774). Novalis setzte das Motiv in seinem Werk »Heinrich von Ofterdingen« (1802) ein.

»Mit dem Buch-im-Buch-Motiv erschaffen die Autorinnen und Autoren eine Metaebene, um die Figuren und ihre Handlung durch die Erwähnung eines Buches oder eines Gedichtes – meist waren das in der Zeit sehr bekannte Titel – näher zu beleuchten«, sagt Koch. Goethes Verweis auf Lessings »Emilia Galotti« beim Selbstmord von Werther ist ein Beispiel.

Zeichnung eines Huhnes, das bequem an ein Buch gelehnt ist.

In anderen phantastischen Romanen, wie zum Beispiel »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende (1979), dient das gleichnamige Buch im Buch als Portal: Es zieht den Leser Bastian hinein in die magische Welt von Phantasien, in der der Text Wirklichkeit und die Figuren und Orte lebendig werden. Bastian wird zu einer handelnden Figur im Reich der Phantasie. »Das Buch-im-Buch-Motiv schafft es, die Leserinnen und Leser auf eine besondere Art und Weise einzubinden. Genau das ist es doch, was uns an guten Büchern gefällt, dass wir ganz und gar in einer Geschichte versinken, dass wir in der Handlung mitspielen und mit den Figuren mitfiebern, die uns so vertraut sind, wie liebe Freunde«, sagt Koch.

Das Buch und das Lesen des Buches stellen in »Die Unendliche Geschichte« wie auch in Funkes Roman »Tintenherz« eine Schleuse in die magische Welt dar. »Was ihren Roman jedoch so besonders macht, ist ihr Einfall, den Autor des Buches – Fenoglio – mit ins Spiel zu bringen«, sagt Koch. »Mo und Meggie suchen den Autor der Geschichte Tintenherz, Fenoglio, innerhalb des Romans Tintenherz auf und hoffen auf seine Hilfe.« Auch Capricorn ist hinter dem Autor her, denn der hat noch ein Tintenherz-Exemplar in seinem Besitz. Doch statt Angst vor dem Bösewicht zu empfinden, zeigt sich Fenoglio begeistert über die von ihm geschriebene Figur.

»Den Autor einzubinden ist ein genialer Schachzug, denn der macht unvorhersehbare Wendungen in der Handlung erst möglich«, sagt Koch. Dank Fenoglio nimmt die Geschichte ein gutes Ende: Er schreibt Tintenherz kurzerhand um. Phantastisch geht es im zweiten Teil der Trilogie – »Tintenblut« (2005) – weiter. Fenoglio zieht aus der realfiktiven Welt in die Tintenwelt um und lebt mit den Figuren, die er selbst geschaffen hat. »Es sind Einfälle wie diese, die alle drei Tintenwelt-Romane von Funke so besonders machen. Sie gehören zu Recht in die Liste der Jugendbuch-Klassiker«, findet Koch. Ein vierter Band, »Tintenwelt. Die Farbe der Rache« ist übrigens in Arbeit.

Autorin: Jennifer Ruske

Der Vortrag von Olaf Koch über Cornelia Funkes »Tintenherz« ist wie die gesamte Ringvorlesung »Literarische Welterfolge in deutscher Sprache« online abrufbar: bit.ly/rv-welterfolge

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