
Medikamententests an Wehrlosen
In schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie waren Medikamentenversuche an den dort untergebrachten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bis 1975 gang und gäbe. Die Universität Kiel arbeitet diese Vorgänge rechtlich auf.

In den Jahren 1949 bis 1975 wurden in Schleswig-Holstein behinderte oder psychisch kranke Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie der Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrien untergebracht waren, systematisch mit Arzneimitteln behandelt und ruhiggestellt, die weder getestet noch zugelassen waren. Das sind die Fakten, die das Lübecker und Kieler Forschungsteam unter Leitung von Professor Cornelius Borck vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität Lübeck zusammengestellt hat. Seit Oktober 2019 laufen die Untersuchungen, die das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren Schleswig-Holstein in Auftrag geben hat.
Grund für die Medikamentenversuche waren unter anderem die Kosten: Psychopharmaka waren teuer, der Kliniketat oft niedrig. Mit Wissen des schleswig-holsteinischen Innenministeriums, das bis 1971 für das Gesundheitswesen im Land zuständig war, wurden daher kostenlose »Ärztemuster« und neue Präparate wie Antiepileptika, Psychopharmaka, Antidepressiva und Beruhigungsmittel angewendet. Einrichtungen gingen Kooperationen mit der pharmazeutischen Industrie ein, um neue Substanzen in Anwendungsstudien zu prüfen – und bekamen ein Honorar für die Medikamentenversuche sowie für die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Dass die Betroffenen vorher – wie das heute üblich und rechtlich festgelegt ist – über die Versuche aufgeklärt worden seien oder ihre Einwilligung erteilt hätten, davon ist in den Akten der jeweiligen Einrichtungen sowie in den Archiven der Pharmafirmen nichts zu finden.
»Den betroffenen Menschen ist großes Leid zugefügt worden«, erklärt Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität. Der Professor für Medizinrecht und der angehende Jurist Tjorben Studt, studentische Hilfskraft an der Kieler Fakultät, kümmern sich in dem dreijährigen Forschungsprojekt um die rechtliche Seite aus damaliger Sicht. Dafür hat sich Studt in Fachartikel, Gerichtsurteile und andere Publikationen vertieft.
»Die rückwirkende rechtliche Beurteilung damaliger Geschehnisse ist hypothetisch, weil man nie weiß, wie die Gerichte damals entschieden hätten«, erläutert von Kielmansegg. Vor allem, weil die Gesetzeslage früher eine andere war. So gab es vor 1976 deutschlandweit keine verbindliche gesetzliche Regelung für die Prüfung und Zulassung neuer Medikamente. Die kam erst, als 1976 ein neues Arzneimittelgesetz in Kraft trat. »Wir haben daher geprüft, inwieweit andere gesetzliche Regelungen sowie ethische und fachliche Standards zum Tragen gekommen sind.« Die gab es zu damaligen Zeiten durchaus. 1947 hielt ein amerikanisches Militärgericht in seinem Urteil im Nürnberger Ärzteprozess (dem sogenannten Nürnberger Kodex) fest, dass Versuchspersonen freiwillig ihre Zustimmung zu Medikamententests geben müssen. Zudem sollten die Versuchspersonen im juristischen Sinne fähig sein, ihre Einwilligung zu geben. »Das schließt eigentlich Menschen aus, die durch Behinderung und Krankheit nicht in der Lange sind, ihre Wünsche klar zu äußern.« Auch der Weltärztebund hatte 1964 ethische Richtlinien formuliert. »Doch die waren nicht rechtsverbindlich«, so von Kielmansegg.
Daher waren anscheinend solche Versuche ohne Weiteres möglich – obwohl das strafrechtlich durchaus als Körperverletzung zu werten war. Doch einen Aufschrei aus der Bevölkerung oder einen Skandal gab es nicht. Um das zu verstehen, müsse man sich in die Zeit der 1950er und 1960er Jahre zurückversetzen, sagt der Jurist. Ärztinnen und Ärzte waren sehr angesehen. Ihr Wort zählte in einer Gesellschaft, in der klare autoritäre und hierarchische Strukturen vorherrschten. »Wenn der Arzt oder die Ärztin Tabletten verschrieb, war es selbstverständlich, dass sie eingenommen oder verabreicht wurden. Erst recht in Einrichtungen wie den Psychiatrien.« Hinzu kommt, dass viele der Betroffenen keine Familie hatten oder die Eltern wenig Interesse an den Kindern zeigten. Hinzu kommt aber auch, dass die Ärztinnen und Ärzte die Menschen nicht unbedingt als Versuchsobjekte sahen, sondern ihnen durchaus helfen wollten. »Doch die Grenze zwischen Forschung und Behandlung – Behandlungen mit experimentellem Charakter wohlgemerkt – verschwamm in vielen Fällen«, sagt der Jurist. Das galt damals zwar nicht als anstößig, ist dennoch ein Punkt, über den von Kielmansegg sagt: »Die Bedingungen, unter denen die Versuche abliefen, waren nicht sauber.« Bewerten will von Kielmansegg dies nicht. »Unsere Untersuchungen dienen nicht dazu, Urteile zu fällen, sondern lediglich Fakten zu liefern.« Im Herbst 2020 ist die Forschungsarbeit beendet und wird als Abschlussbericht mit den Lübecker und Kieler Ergebnissen dem Ministerium überreicht. Dann startet das nächste wichtige Projekt: die Aufarbeitung der »Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1949 bis 1975«.
Autorin: Jennifer Ruske
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