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Migration und Diversität studieren

Der Umgang mit Vielfalt lässt sich an der Uni Kiel studieren. Und das Interesse an diesem in Deutschland sonst kaum vorhandenen Angebot ist außerordentlich groß.

»Ganz klein« ging es nach den Worten von Ibrahim Aluç im Win­ter­semester 2012/13 los mit dem Studiengang »Migration und Diver­sität«. Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. Jedes Jahr bewerben sich 150 bis 180 Studierende aus dem ganzen Bundesgebiet um die mittlerweile 50 zur Verfügung stehenden Plätze. Der Masterstudiengang hat sich mithin zum beliebtesten an der Philosophischen Fakultät gemausert.

Islamwissenschaftler Aluç, der sich lehrend und koordinierend für »Migration und Diversität« engagiert, betrachtet die interdis­zipli­näre Herangehensweise als eine entscheidende Ursache dafür. Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, Islamwis­sen­schaft, Osteuropäische Geschichte, Pädagogik, Slavistik, Sozial­psychologie und Soziologie werden einbezogen, um Chancen und Probleme von Migrationsprozessen und gesellschaftlicher Diversität zu beleuchten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Situation in Deutschland, denn die Verantwortlichen haben auch die spätere berufliche Praxis im Blick.

Für Mohammed Rawad Zyadeh war das ein wichtiges Kriterium bei seiner Bewerbung. Vor drei Jahren flüchtete der Jurist aus Syrien nach Deutschland. Sein akademischer Abschluss wurde ihm relativ schnell anerkannt. Eine berufliche Anerkennung bedeutet das jedoch nicht. Um Richter, Staatsanwalt oder Anwalt zu werden, hätte der 33-Jährige in Deutschland wegen der sehr unterschiedlichen Rechtssysteme beider Staaten noch einmal ein komplettes Jurastudium absolvieren müssen.

»Dieser Masterstudiengang ist eine gute Möglichkeit für Juristen aus dem Ausland«, meint Zyadeh. Nicht nur, dass rechtliche und politische Steuerungsprozesse von Migration Pflichtstoff sind, darüber hinaus ist das Programm aus Sicht des im dritten Semester Studierenden eine runde Sache. Unter anderem geht es um sozialpsychologische Aspekte von Migration, um die gesellschaftlichen Grund­lagen von Globalisierung, um die Kultur der muslimischen, aber auch osteuropäischen Gesellschaften sowie um weitere wichtige Aspekte von Diversität. Die wird beispielsweise unter dem pädagogischen Aspekt beleuchtet. Außerdem nehmen soziologische Gender-, Rassismus- und Diversity-Studien breiteren Raum ein.

Fein heraus ist der arabischsprachige Rawad Zyadeh, wenn es um den sprachlichen Pflichtteil geht. Studierende müssen entweder Polnisch, Russisch, Tschechisch, Türkisch, Persisch oder Arabisch bereits beherrschen oder erlernen. Was für in diesen Sprachen Unkundige bedeutet, dass sich die Studienzeit um ein Jahr, im Fall von Arabisch sogar um bis zu drei Jahre verlängert. »Manche nehmen das in Kauf«, sagt Ibrahim Aluç, nach dessen Angaben der Schwerpunkt stets auf der Schriftsprache liegt: »Es geht darum, Primärquellen auswerten zu können und daraus Rückschlüsse auf die jeweiligen Lebenswelten zu ziehen.»

Was die Philosophie des Studiengangs betrifft, ist Selbstreflexion ein Schlüsselbegriff. Jeder Mensch trägt Vorbehalte und Stereotypen in sich, lautet Aluç' Überzeugung, sich dessen bewusst zu werden, sei ein wesentliches Ziel. Das funktioniert offenbar. »Es gibt immer wieder Aha-Effekte«, erzählt der Islamwissenschaftler und nennt als Beispiel das Wort Flüchtling: Eher verniedlichend, eher nicht auf Augenhöhe, eher ungut also, erklärt Aluç, weshalb sich die Bezeichnung Geflüchtete immer mehr durchsetzt.

Durchsetzen sollen sich die Master-Studierenden auch auf dem Arbeitsmarkt. 420 Stunden Praktikum sind Pflicht, vielfach verfügen die Teilnehmenden über weitere Erfahrungen durch ehrenamtliche Tätigkeiten. Rawad Zyadeh ist ein Musterbeispiel dafür. Er engagiert sich in vielen Bereichen für Geflüchtete, arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft für das International Center der Uni Kiel - und hat beste Aussichten, dort eine feste Stelle zu bekommen.

Martin Geist

Zwei Personen in einem Büro
© Foto: Geist

Mit- und voneinander lernen: Islamwissenschaftler Ibrahim Aluç (rechts) und der Studierende Rawad Zyadeh.

Foto: Geist

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