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Das Menscheln fehlt.

Die globale Pandemie hat der Digitalisierung neuen Schub gegeben. Doch was macht der zunehmende Technikeinsatz eigentlich mit uns? Wie verändert er die Lebensrealität vor allem junger Menschen? Psychologe Dr. Thorsten Kolling wagt einen Ausblick.

Junge vor Laptop
© iStock/damircudic

Wenn Kinder nicht zur Schule gehen können oder dürfen, ist der virtuelle Unterricht eine sinnvolle Option. Doch fehlt beim Homeschooling die menschliche Komponente.

unizeit: Hat die Corona-Krise unsere Haltung zur Digitalisierung verändert?

Thorsten Kolling: Es gibt dazu noch keine empirischen Daten, aber mein Eindruck ist, dass sie die Wahrnehmung der Chancen und Risiken verstärkt hat, die Auseinandersetzung ist differenzierter geworden. Viele erleben Digitalisierung plötzlich unmittelbar, zum Beispiel im Homeoffice und bei Videokonferenzen. Wo vorher launenhaft und affektiv diskutiert wurde, kann es nun eine informiertere Debatte geben.

Welche Risiken bergen neue Kommunikationswege?

Wir sehen, dass die Mediennutzung so unterschiedlich ist wie die Individuen selbst. In der Krise zeigt sich die Persönlichkeit stärker als sonst. Bei einigen geht die Nutzung zurück, sie verspüren vielleicht weniger Druck, sich in sozialen Gruppen darzustellen oder greifen öfter zu einem Buch. Andere konsumieren Medien exzessiver, spielen überdurchschnittlich viel oder lassen sich von Fake News und Verschwörungstheorien beeinflussen. Das kann zum Teufelskreis werden.

Interessant ist, dass es bei Videokommunikation zu einer teilweisen Aufmerksamkeitsverschiebung kommt, weg vom Gegenüber. Im virtuellen Gespräch beobachten wir plötzlich auch das eigene Bild, hinterfragen uns und unsere Aussagen stärker. Hier gibt es sicher Parallelen zu problematischen Verhaltensweisen, die wir aus den sozialen Medien kennen: etwa negative Selbstwahrnehmung, die für Risikogruppen wie Menschen mit Essstörungen gefährlich werden kann. Medienkompetenz spielt aktuell eine große Rolle.

Ihr Schwerpunkt liegt in der Entwicklungspsychologie. Was hat sich durch den digitalisierten Alltag besonders für junge Menschen geändert?

In der privaten Kommunikation hat sich für Jugendliche wenig geändert. Anders sieht es im Schul- und Unikontext aus. Hier spielt das Thema Feedback die größte Rolle. In einer virtuellen Lehrsituation gibt es weniger wahrnehmbare Unruhe, Reibung, Konflikte oder Situationskomik, kurz: Die humane Komponente fehlt, das Gefühl. Wir sehen daran, wie wichtig Beziehungen sind und die Möglichkeit, in einer Lehrsituation auf Einzelne einzugehen. Und auch die Lehrenden brauchen das Feedback der Klasse oder des Seminars.

Es geht um die Gesamtheit des Menschen, Dinge wie Riechen, Berühren. Mimik und Gestik können digital nur teilweise abgebildet werden, oft asynchron. Darüber hinaus vermissen wir das gemeinsame Erleben einer multisensorischen Umwelt, zum Beispiel in einer Tischsituation mit Freunden, bei der man über das geteilte Essen spricht, aufsteht, sich die Butter reicht. Diese Erfahrung kann Technik kaum kompensieren und können auch Technologien wie Hologramme oder 3D nicht abbilden.

Wird der (digitale) Alltag nach Corona ein anderer sein?

Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich bei Corona um ein globales, chronisches Stressereignis handelt, das uns Bewältigungsstrategien abverlangt, wie wir sie etwa von Menschen kennen, die mit einer Krankheitsdiagnose konfrontiert wurden. Reaktionen wie Frust, Stress oder Demotivation resultieren nicht nur aus der häuslichen Isolation, sondern auch aus der Unbestimmtheit der Situation. Erst nach einem ersten Agitieren, das wir bei Corona auch in der Politik gesehen haben, folgt das Innehalten.

Jetzt wissen wir, was gehen kann. Es wird Konflikte geben nach dem Motto »das ging doch bei Corona auch«. Es wird diejenigen geben, die Homeoffice ablehnen, weil die Situation mit Kindern zuhause belastend war, andere haben positive Erfahrungen gemacht. Wichtig ist, dass wir nicht auf einem hohen Stressniveau aus der Situation herausgehen. Es ist schön, wenn wir uns mehr um Technikeinsatz streiten, nicht um der Technik, sondern um der Menschen willen. Es gilt, Vor- und Nachteile abzuwägen. Digitalisierte Schulen und Unis sind unbedingt sinnvoll, Routinetätigkeiten lassen sich gut überführen, aber Technik sollte vor allem Unterstützungsfaktor sein. Je jünger die Rezipierenden sind, desto wichtiger bleibt die Präsenz. Lehrende werden auch in den nächsten Jahrzehnten nicht obsolet. Die Technologieentwicklung wird sicher noch stärker beschleunigt, ich denke da an Robotik oder mobile Telepräsenz, sogenanntes »Skype on Wheels«, aber Corona hat uns auch gezeigt: Menschliche Beziehungen sind nicht ersetzbar.

Das Interview führte Anna-Kristina Pries

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