
Wertvolles Biotop im Wattenmeer
Dank zeitgemäßer technischer Hilfsmittel sind Muschelbänke, die sich permanent unter Wasser befinden, heute einfacher im Wattenmeer aufzuspüren als früher. Gewisse Rätsel geben sie aber immer noch auf.

Muscheln gehören zum Wattenmeer, größere zusammenhängende Vorkommen gibt es jedoch kaum noch.
Miesmuscheln sind seit eh und je treue Bewohnerinnen des Wattenmeers. »Das ist auch gut so«, sagt Küstengeowissenschaftler Dr. Klaus Ricklefs vom Forschungs- und Technologiezentrum (FTZ) Westküste der Uni Kiel. Der Experte spricht den Muschelbänken eine »herausragende Rolle für das Funktionieren des Ökosystems und für die Artenvielfalt« zu, sodass vertieftes Wissen darüber mehr als wünschenswert sei. Das Problem dabei: Während die trockenfallenden Muschelbänke im Wattenmeer dank Ebbe und Flut bequem zweimal am Tag inspiziert werden können, stellt es sich bei den dauerhaft unter Wasser angesiedelten Kolonien nicht so einfach dar. Anders als im klaren Wasser der Ostsee bleiben nämlich die ständig im meist trüben Wasser des Wattenmeers lebenden Muscheln fast immer verborgen. Hinweise auf mögliche Vorkommen kamen lange Zeit vor allem aus der Berufsfischerei, die Wissenschaft ging sodann mit mechanischem Gerät und im wahrsten Sinne des Wortes im Trüben fischend mal mehr, mal weniger erfolgreich auf die Pirsch.
Bodengreifer und spezielle Schleppnetze, die sogenannten Dredgen, kommen zwar auch heute noch zum Einsatz, das geschieht jedoch viel gezielter als früher. Hydroakustische Messgeräte wie Seitensichtsonare oder Fächer-Echolotanlagen ermöglichen laut Ricklefs flächendeckende und detailreiche Abbildungen des Meeresbodens. Damit lassen sich zwar Muschelbänke »nicht mal eben so aufspüren«, der Fachmann kann aber aus bestimmten Sonarsignaturen schon recht verlässlich Bereiche mit vielen Muschelschalen ableiten oder auch andere Abschnitte des Meeresbodens von vornherein ausschließen. »Das macht die Arbeit dann schon erheblich leichter«, erläutert Ricklefs, der in Kiel Geologie studiert hat und seit 1991 vom FTZ in Büsum aus das Wattenmeer erforscht.
Einfach ist es allerdings trotzdem nicht, denn solche Biotope aus leeren Schalen, lebenden Muscheln und einer Vielzahl anderer Kleinlebewesen sind im nordfriesischen Wattenmeer rar geworden. Waren gut ausgebildete Bänke der Miesmuscheln, denen im Wattenmeer eine ähnlich herausragende Rolle wie Korallenriffen in tropischen Meeren zukommt, bis in die 1920er-Jahre hinein noch recht weit verbreitet, so schrumpften die Bestände in den 1950er-Jahren auf einen Tiefstand, um Ende der 80er Jahre wieder annähernd das Niveau von 1920 zu erreichen.
Zu den Ursachen dieser erheblichen Schwankungen gibt es laut Ricklefs eine Reihe von Hypothesen, aber kaum wirkliche Beweise. Der Einbruch um 1950 dürfte in erster Linie als Folge intensiver Fischerei in den kargen Zeiten während des Zweiten Weltkriegs und danach zu sehen sein. Die Erholung danach führen die Fachleute dann unter anderem auf die starke Eutrophierung (Anreicherung mit Nährstoffen) des Wattenmeers zurück. Städtische Abwässer wurden oft noch ungeklärt eingeleitet, Waschmittel waren noch nicht phosphatfrei, hinzu kam ausgewaschener Dünger von landwirtschaftlichen Flächen, sodass bis Ende der 1980er-Jahre der Nährstoffgehalt im Wattenmeer stark angestiegen war. In der Folge kam es zur massenhaften Vermehrung von im Wasser schwebenden Mikroalgen, die auf der Speisekarte der Miesmuscheln weit oben stehen, und so wurde die Miesmuschel quasi zur Nutznießerin dieser eigentlich alles andere als wünschenswerten Überdüngung.
Nachdem das Wattenmeer ein Nationalpark geworden ist und seitens des Landes, des Bundes sowie der EU strenge Auflagen zum Schutz der Gewässer gelten, hat sich viel verbessert. Das Wattenmeer ist nun vielleicht kein Schlaraffenland mehr für die Miesmuscheln, aber darben müssen sie deswegen noch lange nicht. Erfreulich ist auch, dass die Bedrohung der Muschelbänke durch den Menschen deutlich abgenommen hat. So ist das Befischen von wilden Muschelbänken auf trockenfallenden Wattflächen seit einigen Jahren vollständig untersagt und das Fischen von jungen, sogenannten Saatmuscheln nur noch in einigen Wattrinnen erlaubt.
Weil die Nationalparkverwaltung der EU alle sechs Jahre Bericht über den Zustand des Wattenmeers erstatten muss, begeben sich Ricklefs und sein kleines Team vom FTZ der Uni Kiel mithilfe des mit vielerlei Messtechnik ausgerüsteten Forschungskatamarans EGIDORA seit 2008 regelmäßig auf die Spur der Muschelbänke. Der aktuelle Befund: Die Anzahl der im schleswig-holsteinischen Wattenmeer permanent unter Wasser liegenden Muschelbänke, die über mehrere Jahre hinweg besiedelt sind, lässt sich an einer Hand abzählen. Obendrein nimmt selbst auf diesen Bänken die Anzahl an Miesmuscheln ab, dafür aber die Besiedlung mit Pazifischen Felsenaustern stetig zu. Diese Auster, die als Zuchtauster für Farmen (Sylter Royal) künstlich ins Wattenmeer eingebracht worden ist, vermehrt sich prächtig in ihrem neuen Lebensraum, obwohl die Berufsfischerei ihr in hiesigen Breiten anfangs kaum eine Zukunft zutraute.
Auch die damalige Befürchtung der Wissenschaft, dass die Pazifische Felsenauster die Miesmuschel verdrängen könnte, bestätigte sich nicht. Der bekannte Wattenmeer-Ökologe Professor Karsten Reise beschrieb vielmehr jüngst seine Beobachtung, wonach sich beide Muschelarten im gemeinsamen Lebensraum zu arrangieren scheinen. Die Miesmuscheln siedeln sich gern unter oder zwischen den Austern mit ihren robusten Schalen an. Dort gibt es zwar etwas weniger Nahrung aus dem Wasser zu filtern, dafür sind die von Natur aus nicht so stabilen »Ureinwohner« des Wattenmeers besser vor Fressfeinden wie Seesternen oder Vögeln geschützt.
Autor: Martin Geist
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