
Vom Gehirn lernen
Computer werden zwar immer leistungsfähiger, doch weitaus effizienter arbeitet das menschliche Gehirn. Was wir davon für das Lernen sowie die technische Informationsverarbeitung ableiten können, erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im neuen Sonderforschungsbereich 1461 »Neurotronics« – darunter sind auch zahlreiche Nachwuchsforschende.

Biologisch inspirierte Bauteile wollen Professor Hermann Kohlstedt (v. l.), Dr. Sandra Hansen, Dr. Alexander Vahl und die anderen Mitglieder des neuen Sonderforschungsbereichs entwickeln.
Bereits im Mutterleib bildet und verknüpft sich in unserem Gehirn eine enorme Anzahl von Nervenzellen. Dieses Netzwerk bildet die Grundlage für Lern- und Erinnerungsprozesse und verändert sich während unseres ganzen Lebens. Kontinuierlich passt sich das Gehirn an neue Reize an, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen von »neuronaler Plastizität«. Dazu gehört auch, dass sich Nervenzellen wieder abbauen, zum Beispiel nach intensiven Entwicklungsphasen, in denen Kleinkinder laufen und sprechen lernen. »Das ist aber nicht bedenklich, sondern energieeffizient. Behalten wird nur, was für die Verarbeitung von Informationen weiterhin wirklich benötigt wird, sowohl bei der Entwicklung eines einzelnen Menschen als auch bei der Evolution über mehrere Millionen Jahre«, erklärt Hermann Kohlstedt, Professor für Nanoelektronik und Sprecher des neuen Sonderforschungsbereichs (SFB) »Neuroelektronik: Biologisch inspirierte Informationsverarbeitung«. Hier werden über 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die strukturelle und dynamische Informationsverarbeitung in Modellorganismen mit unterschiedlich komplexen Nervensystemen erforschen – dem Süßwasserpolyp Hydra, der Würfelqualle Tripedalia cystophora und der Echse Anolis carolinensis – um Erkenntnisse auf die Entwicklung innovativer Hardware zu übertragen. Zum Beispiel um die Muster- und Spracherkennung oder die Energieeffizienz von technischen Systemen zu verbessern. »Unser Gehirn passt sich an wechselnde Bedingungen an, verarbeitet viele Informationen parallel und benötigt dafür gerade einmal etwa 25 Watt«, betont Kohlstedt dessen Leistungsfähigkeit. »Und seine Energieversorgung ist bereits eingebaut«, ergänzt Dr. Sandra Hansen, Vorstandsmitglied des SFB. Die Materialwissenschaftlerin arbeitet an neuartigen Batterien und will im SFB elektrochemische Prozesse in der biologischen Informationsübertragung erforschen: Sie könnten den Vorgängen in Batterien vom Prinzip her ähneln und diese noch verbessern. Dr. Alexander Vahl, ebenfalls Materialwissenschaftler, wird untersuchen, wie in technischen Netzwerken Pfade zwischen elektrischen Kontakten »wachsen« und verschwinden können, um Signale zu übertragen, ähnlich den Verbindungen zwischen zwei Nervenzellen. Bereits in einem Vorgängerprojekt arbeitete Vahl an der Entwicklung sogenannter Memristoren mit – Speicherbauteilen, die ihren elektrischen Widerstand ändern, basierend auf der Ladung, die durch sie hindurchgeflossen ist.
Nachwuchsforschende wie Hansen und Vahl nehmen eine zentrale Rolle im SFB ein. Zusammen mit den beteiligten Professorinnen und Professoren stellten die beiden letztes Jahr die Pläne für den SFB der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vor – und überzeugten: Die Förderinstitution unterstützt das Projekt in den nächsten vier Jahren mit 11,5 Millionen Euro. Hier werden sie in der eigenverantwortlichen Leitung von Teilprojekten wertvolle Erfahrungen für ihre eigene Wissenschaftskarriere sammeln, sind sich Hansen und Vahl sicher.
Beide haben sich damals sehr bewusst für ein Studium der Materialwissenschaft an der CAU entschieden. »Hier ging es nicht um klassische Strukturwerkstoffe wie zum Beispiel Stahl, sondern um die Entwicklung von neuen Funktionsmaterialien mit Methoden der Nanotechnologie”, sagt Vahl. Solche Materialien reagieren zum Beispiel selbstständig auf äußere Reize wie Licht, indem sie ihre elektrischen Eigenschaften ändern. Nach Studium und Industriepraktika war Hansen und Vahl klar, dass es in die Wissenschaft gehen soll. »Mich reizt, Forschung und Lehre verbinden zu können«, sagt Hansen. »Hier steht das tiefe Verständnis eines Themas im Vordergrund, statt in einer begrenzten Zeit ein bestimmtes Produkt entwickeln zu wollen«, ergänzt Vahl. Denn Forschung ist ergebnisoffen; was am Ende herauskommt, ist nicht vorhersehbar – auch im SFB 1461 nicht. »Unsere Aufgabe ist anspruchsvoll, aber wir haben erfahrene Partner und talentierte junge Leute mit einem frischen Blick an Bord«, ist Kohlstedt zuversichtlich.
Autorin: Julia Siekmann
Bioinspirierte Elektronik
Das Forschungsfeld erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaft, Biologie, Psychologie, Physik, Elektrotechnik, Materialwissenschaft, Netzwerkwissenschaft und nichtlinearer Dynamik. Beim SFB 1461 sind von der CAU als Sprecherhochschule Mitglieder der Forschungsschwerpunkte Kiel Nano, Surface and Interface Science und auch Kiel Life Science involviert. Außerdem sind acht weitere Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken beteiligt. (jus)
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