
Wissen statt Bauchgefühl
Afghanistan ist das aktuell bekannteste Beispiel für die Tücken westlicher Eingriffe in einen innerstaatlichen Krieg. Ein Projekt widmet sich nun der Frage, auf welcher Wissensbasis eigentlich über solche Interventionen entschieden wird.

Deutsche Streitkräfte in fremden Staaten. Nicht immer funktionieren solche Interventionen.
Die Wissenschaft, aber auch die Geheimdienste, die Medien und vielerlei sozial oder politisch ausgerichtete Organisationen liefern ebenso umfassende wie objektive Fakten zur Lage in einer bestimmten Region. Einzig und allein daran ausgerichtet berät dann die Politik, ob mit Militär oder mit Geld – oder vielleicht überhaupt nicht – eingegriffen werden soll. »Das wäre die Idealvorstellung“, meint Dr. Frank Stengel vom Arbeitsbereich Internationale Politische Soziologie an der Uni Kiel. Die Welt ist nach seinen Worten freilich auch in diesem Bereich nicht so, wie sie sein sollte: »Dieses Wissen ist in der Regel weder perfekt noch einfach da. Es ist gefiltert, vorselektiert und nie wirklich objektiv.“
Unter dem Titel »KNOWPRO: Wissensproduktion in der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik“ startete im April ein auf vier Jahre angelegtes Forschungsprojekt, das klären soll, auf welche Weise solche Entscheidungen, die immerhin über Krieg und Frieden sowie das (Zusammen-)Leben zahlloser Menschen entscheiden, überhaupt zustande kommen. Beteiligt sind an dem Vorhaben die Uni Kiel mit Frank Stengel und Professor Dirk Nabers sowie darüber hinaus die Universitäten Erfurt mit Professorin Sophia Hoffmann und Bremen mit Professor Klaus Schlichte.
Als Fallbeispiele dienen dabei der von Deutschland mit militärischen Mitteln bestrittene Einsatz in Afghanistan und die auf finanzielle Unterstützung beschränkte Intervention in Somalia, wo ostafrikanische Staaten die bewaffneten Kräfte stellen. Die drei an dem Projekt beteiligten Hochschulen betrachten diese Fälle aus jeweils unterschiedlicher Perspektive. In Kiel liegt der Fokus darauf, wie zum Beispiel Probleme, Konflikte und die eigene Rolle »geframt«, also eingeordnet werden. So können Konflikte als Stammeskonflikte, als Staatszerfall, als Problem für die europäische oder gar die globale Sicherheit interpretiert werden. Interventionen lassen sich derweil als Kampfeinsatz, Friedensoperation, Stabilisierungsmission und vieles mehr deuten.
Dabei setzen die Beteiligten aus Kiel auf gründliche Analyse von Dokumenten, Fachliteratur, Medienberichten. Auch interne Papiere besonders aus dem Außen- und Verteidigungsministerium sollen – sofern entsprechende Einblicke gewährt werden – Aufschluss über die jeweiligen Einschätzungen geben. Spannend ist dabei, ob Beurteilungen sich zum Beispiel innerhalb eines Ministeriums im Lauf der Zeit verändert haben, oder ob andere Organisationen zu anderen Bewertungen kommen.
Tatsächlich, so weiß Dr. Stengel, gibt es etwa zum Thema Afghanistan durchaus Hinweise, dass die Friedensforschung militärische Interventionen eher skeptisch betrachtet, die sicherheitspolitische Forschung aber nicht unbedingt. Mithin scheint also zumindest die Friedensforschung zuweilen ganz andere Entscheidungen nahezulegen als die am Ende tatsächlich getroffenen.
Welche Faktoren beeinflussen solche Prozesse? Und wie sieht es mit spezifischen Strukturen innerhalb von Organisationen aus? Mit diesen Fragen wollen sich die Forschenden in Erfurt und Bremen vorrangig beschäftigen. Unter anderem geht es dabei um standardisierte Verfahrensweisen, Organisationskulturen sowie eventuelle Revierkämpfe oder Kompetenzgerangel zwischen Ministerien. Auch der nachvollziehbare Umstand, dass im diplomatischen Dienst eher generalistische als bis ins Detail spezialisierte Kräfte sitzen, kann laut Stengel Einfluss auf Entscheidungsprozesse haben.
Erkenntnisse aus der Organisationssoziologie legen außerdem nahe, dass weitere Faktoren wie strategische Überlegungen oder Karriereerwägungen eine Rolle spielen könnten. Herauszufinden, ob so etwas tatsächlich passiert, ist ein Teil des Projekts.
Interessant ist für die Fachleute aus Kiel, Erfurt und Bremen auch dieses Phänomen: »Bestenfalls durchwachsen« ist nach den Worten von Frank Stengel die Bilanz der weitaus meisten Militärinterventionen, trotzdem werden immer wieder neue gestartet. Wo also liegt der Fehler? Und wie kann vielleicht gewährleistet werden, dass Einsätze in Krisengebieten auf fundiertem Wissen beruhen, um größtmöglichen Erfolg zu ermöglichen?
Autor: Martin Geist
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