
Das Regieren der Algorithmen
Die Frage, wer eigentlich wen regiert, ist selten einfach zu beantworten. So auch im Fall von Algorithmen. Mit diesem Problem befasst sich die Soziologie algorithmischer Regierungskunst.

Kästchen an Kästchen gereiht, das ist das Prinzip der Blockchain. Ein demokratisches Wundermittel ist das Verfahren aber nicht.
Algorithmen werden in einer zunehmend digitalisierten Welt immer bedeutsamer. Sie vermitteln unsere Einkäufe, empfehlen uns Musik oder erstellen Routen und beeinflussen dadurch ganz konkret unser Handeln in der Welt.
Doch was sind überhaupt Algorithmen? Schritt für Schritt geben sie nach einer beliebten Definition gleichsam wie ein Kochrezept vor, was geschehen soll, damit das gewünschte Ergebnis herauskommt. Das allerdings greift aus Sicht des Soziologen Professor Robert Seyfert deutlich zu kurz: »Es ist eben nicht so, dass Algorithmen in kühler, objektiver Präzision und perfekter Zuverlässigkeit einfach nur einen Schritt des "Rezepts" nach dem anderen ausführen. Vielmehr zeigt die Soziologie, dass Algorithmen in der tatsächlichen Praxis immer eng verwoben sind mit ihren – technischen und nicht-technischen – Umgebungen.« Wie sie dies genau tun und welche Vorstellungen des Regierens sich daraus entwickeln, das ermittelt Seyfert gemeinsam mit dem Doktoranden Jan Groos in einem Forschungsprojekt zum Regieren der Algorithmen.
»Mit Regieren meinen wir nicht in erster Linie Staatsführung, sondern jede Form von Steuerung individuellen oder kollektiven Handelns«, verdeutlicht der seit April 2021 in Kiel tätige Sozialwissenschaftler. Oft genug finden im Alltag solche Steuerungsprozesse statt, ohne dass es von den Betroffenen überhaupt wahrgenommen wird. Das sogenannte »Nudging«, zu deutsch in etwa Schubsen, zielt geradezu auf Verhaltensänderung durch Impulse, die kaum bemerkt oder wenigstens nicht als störend wahrgenommen werden: Die Fliege im Urinal lässt Männer gezielter pinkeln, und auf kleinen Tellern serviertes Essen macht Hungrige schneller satt. Amazon und Co. nutzen das Verfahren durch Auswertung von persönlichen Vorlieben längst auch in digitaler Form.
Wir haben zwar das Recht zu erfahren, welche Daten verarbeitet werden, viel interessanter wäre es jedoch zu wissen, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden.
Im Kraftfahrzeug sind von immer mehr Assistenzsystemen bis zum komplett autonomen Fahren ebenfalls ganz offensichtlich die Algorithmen am Werk. »Die Frage ist, wer assistiert hier eigentlich wem?«, beschreibt Robert Seyfert die damit verbundenen Verschiebungen des Verhältnisses von Mensch und Technik. »Hilft das Auto dem Menschen, um zum Beispiel eine konstante Geschwindigkeit zu halten? Oder der Mensch dem Auto, wenn etwa das Assistenzsystem die Orientierung verliert, weil die entsprechende Karte fehlt?«
Jan Groos untersucht innerhalb des gemeinsamen Forschungsprojekts solche und auch deutlich komplexere Vorstellungen zukünftigen Regierens mithilfe algorithmischer Technologien. Konkret widmet er sich zum Beispiel der Blockchain-Technologie. Blockchains sind im Prinzip riesige Datenbanken, die nicht zentral an einem Ort vorliegen, sondern verteilt in einem Netzwerk. Die in der Blockchain gespeicherten Daten sind öffentlich zugänglich, so dass jede Person mit ausreichendem Wissen und ausreichender Ausrüstung potenziell am Prozess der Überprüfung der Integrität der gespeicherten Daten teilnehmen und neue Blöcke an die Kette anhängen kann. Der Begriff »dezentral« werde aber »häufig als Marketingbegriff und oft stark ideologisch aufgeladen« verwendet, kritisiert Groos. Die Behauptung, dass Machtstrukturen innerhalb von Blockchain-basierten Netzwerken »dezentralisiert« seien, hält er für höchst fragwürdig. Und erst recht die Annahme, Blockchain-basierte Technologien könnten verwendet werden, um (politische) Macht in anderen Bereichen der Gesellschaft gewissermaßen automatisch zu dezentralisieren.
Derweil hat Robert Seyfert in empirischen Untersuchungen gezeigt, dass der vielfach kritisch gesehene Hochfrequenzhandel mit seinen algorithmisch erzeugten, nur einen Wimpernschlag dauernden Transaktionen nicht einfach ein Ergebnis technologischen Fortschrittes, sondern ein Produkt politischer Regulierungen ist. Hier zeigt sich seinem Befund zufolge, dass solche Regulierungen auch regelrecht Geburtshilfe für Algorithmen leisten können.
Im Datenschutz scheint das Regieren über die Algorithmen ebenfalls nicht ganz zufriedenstellend zu funktionieren. So schafft die europäische Datenschutzgrundverordnung laut Robert Seyfert zwar tatsächlich mehr Transparenz über Algorithmen, die auf einzelne Personen verwendet werden. Sie weist aber eine große Schwäche auf: »Wir haben zwar das Recht zu erfahren, welche Daten verarbeitet werden, viel interessanter wäre es jedoch zu wissen, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden.«
Und auch auf der theoretischen Ebene bieten die Forschungsarbeiten hochinteressanten Stoff. So wird derzeit unter anderem darüber diskutiert, ob Algorithmen nicht vielleicht für zeitgenössische Formen der Planwirtschaft und gar zu einer Überwindung des Kapitalismus eingesetzt werden können. Was ironischerweise auf eine Erfüllung des alten Traums vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz – ausgerechnet dank seelenlos-digitaler Technik – hinauslaufen würde.
Autor: Martin Geist
Zum Vertiefen
Sowohl Robert Seyfert als auch Jan Groos betreiben Podcasts mit Gesprächen zum Thema: In »Der Streit« diskutieren Robert Seyfert und Andre Armbruster über neue soziologische Literatur. In »Future Histories« versucht sich Jan Groos mit seinen wechselnden Gästen an einer »Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft«.
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