
Schützlinge auf großer Reise
Wer durch den Botanischen Garten der CAU streift, kann Pflanzen ferner Klimazonen bestaunen. Eine Artenvielfalt, die durch einen weltweiten Saatgutaustausch ermöglicht wird.

Im Saatlager werden die gesammelten Schätze geordnet und archiviert, bis sie in Tütchen per Post versendet werden.
Vier Jahre nach Gründung der Christian-Albrechts-Universität durfte Professor Johann Daniel Major 1669 endlich seinen Spaten in die Erde des Kieler Schloßgartens stechen. 10.000 Quadratmeter standen dem Universalgelehrten zur Verfügung. Also besorgte er sich zum Teil Pflanzen aus dem Neuwerkgarten bei Schloss Gottorf – und griff zu Papier und Feder. In Briefen bat Major andere Gärten um Setzlinge und Samen. Auch schon im 17. Jahrhundert eine ganz übliche Bitte, weiß Dr. Martin Nickol, Kustos des heutigen Botanischen Gartens. »Die Umgebung Kiels war damals viel grüner, als wir es uns heute überhaupt vorstellen können«, erklärt Nickol. So konnte Major heimische Pflanzen gegen exotische Tulpenzwiebeln aus der Türkei eintauschen.
Die gesammelten Schätze erforschte der Medizinprofessor gemeinsam mit Studierenden und publizierte den pflanzlichen Reichtum in einer Liste. 350 Jahre später profitiert die Biodiversität des Botanischen Gartens noch immer vom kontinuierlichen Austausch. „Wir erhalten etwa 1.200 Saatpäckchen jährlich und verschicken etwa 2.500 Päckchen“, bilanziert Susanne Petersen, stellvertretende technische Leiterin des Botanischen Gartens. Sie erfasst die eingehenden und ausgehenden Bestellungen und koordiniert den Samentausch.
Das Ergebnis ist nicht nur für Besucherinnen und Besucher schön anzuschauen. Es ist das Ergebnis der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Gärten vieler Nationen und Klimazonen. Denn nicht bei jedem blüht, gedeiht und fruchtet alles. Der Austausch ermöglicht, auf veränderte Bedürfnisse in Forschung und Lehre sofort zu reagieren. Spezialsammlungen, beispielsweise bestimmter Ackerpflanzen, werden per Samentausch zusammengetragen, für die Dauer des Projekts an einem Ort kultiviert und untersucht. Je umfangreicher die Sammlung, desto bessere Antworten auf Forschungsfragen können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden oder sich zu neuen Ideen inspirieren lassen. Im Anschluss werden die Pflanzen wieder im Verbund verteilt.
»Das ist eine übernationale Zunft, die da zusammenarbeiten muss«, sagt Nickol und ist mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sichtlich stolz, ein verlässlicher Austauschpartner für mehr als 450 botanische Gärten rund um den ganzen Globus zu sein.

Das Saatgut wird gereinigt, sortiert und in der Datenbank des Botanischen Gartens verzeichnet, ehe es in alle Welt versandt wird.
Doch nicht nur das Netzwerk muss funktionieren, auch die Gärtnerinnen und Gärtner vor Ort müssen sich tüchtig ins Zeug legen. In Kiel ernten sie im Freiland ab Mai, wenn die ersten Frühblüher reifen, bis November oder Dezember. Die Ausbeute hängt dabei sehr von der Witterung ab. »2017 war kompliziert, weil es zu nass war«, erinnert sich Susanne Henning, die seit 25 Jahren im Botanischen Garten arbeitet. »Manchmal haben wir auch Pech und die Hasen fressen unsere Pflanzenkulturen«, sagt die Freilandgärtnerin. In den Gewächshäusern kann ganzjährig Saat geerntet werden. Henning und ihre Kolleginnen und Kollegen kontrollieren regelmäßig, wie reif ihre Schützlinge sind, bis sie sie mit viel Geduld nach Arten getrennt in vielen Schalen sammeln. Anschließend trocknet Henning das Saatgut und befreit es von Blättchen, Haaren und anderen Pflanzenresten. Ihre Sorgfalt wird belohnt: Gut gereinigte und richtig gelagerte Samen bleiben länger keimfähig. »Selbst nach 60 Jahren kann unsere Fingerhutsaat noch in feuchter Erde gedeihen«, verspricht Nickol.
Damit es keine Verwechslungen gibt, erhält jede Saat einen Namen und eine Nummer, die in einer Datenbank gespeichert werden. Wie bei einem Personalausweis. Damit zieht sie ins Saatlager ein – oder wie Martin Nickol es nennt: »in unseren Tresor«. Sortiert nach Familien, Gattungen und Arten liegt hier Saatgut in allen Formen und Farben nebeneinander und wartet auf seine Reise um die Welt. Jährlich können 500 bis 700 Arten über den Index Seminum Horti Botanici Kiliensis ausgewählt werden. Seltene Sukkulenten- oder Agavenarten sind besonders beliebt. Doch egal ob Agave oder Brennnessel: Alle Bestellungen sind für die am internationalen Samentausch beteiligten botanischen Gärten kostenfrei, betont das Team. Seit 1669 motiviert einzig der gegenseitige Nutzen.
Denn um die genetische Vielfalt zu erhalten und Inzuchtlinien unter den Pflanzen zu vermeiden, sind botanische Gärten auf »frisches Blut« aus dokumentierter Herkunft angewiesen, bevorzugt von Wildstandorten. Umso bedeutsamer sind jene in Kiel kultivierten Pflanzen, die zuletzt im 19. Jahrhundert wild gesammelt werden konnten. Ihr natürlicher Lebensraum wurde unter anderem durch die Industrialisierung und den Klimawandel zerstört. Vom Gründer Major bis zu den heutigen Auszubildenden zeigt sich also, wie wichtig die tägliche Pflege durch fachkundige Gärtnerinnen und Gärtner ist. Nickol: »Nur gemeinsam kann der Artenreichtum erhalten bleiben.«
Autorin: Raissa Maas