
Stresstest für das Gesundheitswesen
»Unser Gesundheitssystem hat in der Coronakrise trotz bestehender Defizite Anpassungsfähigkeit bewiesen«, meint der Kieler Innovationsforscher Professor Carsten Schultz. Und plötzlich ist auch Telemedizin möglich.

Hausbesuch ohne Infektionsgefahr: Die Corona-Krise beschert der Telemedizin enormen Aufschwung.
Das Gesundheitswesen in Deutschland hat der Krise durch die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) standgehalten. Und das nicht nur, weil deutsche Krankenhäuser besser mit Intensivbetten und Beatmungsplätzen ausgestattet sind oder weil die politischen Maßnahmen zu einem im Vergleich zu Italien oder Spanien langsameren Anstieg der Fallzahlen geführt haben. »In meinen Augen hat unser Gesundheitswesen den Stresstest auch bestanden, weil es auf Probleme flexibel reagiert hat«, betont Professor Carsten Schultz vom Institut für Betriebswirtschaftslehre und Innovationsforschung. So hätten zwar viele Krankenhäuser im Vorfeld nur bedingt in ihren Pandemieplänen die notwendige Vorsorge getroffen, aber dann ihre Abläufe intern an die neue Situation gut angepasst und sich mit anderen Häusern abgestimmt. Bemerkenswert ist nach Auffassung von Schultz auch die Innovationskraft, die vom Personal ausging. »Auch im UKSH wurde von einem Tag auf den anderen eine Jobrotation eingeführt. Das heißt, Pflegekräfte aus weniger belasteten Bereichen haben in anderen Stationen ausgeholfen. Es wurden interdisziplinäre Teams gegründet aus Ärztinnen und Ärzten unterschiedlicher Profession, die gemeinsam mit Pflegekräften Lösungen erarbeitet haben.«
Dass die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen in Kliniken grundsätzlich besser werden müsse, sei eine Lehre aus der Krise. »Die Abgrenzung zwischen ärztlichem Personal, Pflegepersonal und weiteren Servicekräften, die etwa für Hygiene im Krankenhaus sorgen, ist groß. Auch unsere Studien zeigen, dass die Überwindung dieser funktionellen Silos der Schlüssel zu erfolgreichen Innovationen ist.«
Trotz Pflegenotstand und Überlastung des ärztlichen und nicht ärztlichen Krankenhauspersonals, zeigt sich, so Schultz, »wenn es gefordert wird, wie jetzt, arbeitet es hoch motiviert und effektiv.« Das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stimmung schlecht ist, wie Mitarbeiterbefragungen in vielen Kliniken deutschlandweit ergeben hätten. Auch zukünftig wird die Politik über bessere Arbeitsbedingungen für das Personal von Kliniken nachdenken müssen.
Strukturell habe sich die regionale Kooperation von ambulanter Ärzteschaft, Gesundheitsamt und Krankenhäusern in der Krise als positiv erwiesen. Schultz: »Diese Strukturen haben zu flexiblen Lösungen geführt. Krankenhäuser sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass weder genügend Schutzausrüstung noch Transparenz über freie medizinische Kapazitäten vorhanden war. Wirtschaftliche Konkurrenten haben in der Not Kapazitäten ausgetauscht, es wurden kurzfristig effiziente Informationswege geschaffen und es wurden Leistungen für andere übernommen, um die Versorgung aufrechtzuerhalten.« Ein Pluspunkt in Deutschland sei außerdem die starke Stellung der Universitätsmedizin. Die enge Verzahnung von Forschung und Klinik und die damit einhergehende wissenschaftliche Herangehensweise hätten sich bewährt.
Erfreulich ist aus Sicht des Experten für Innovationen im Gesundheitswesen, dass moderne technische Lösungen wie die Telemedizin und der digitale Datenaustausch, die lange Zeit verschlafen wurden, plötzlich möglich sind. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen erhalte durch die Pandemie Aufwind. Es seien Entwicklungen beschleunigt worden, die trotz vorliegender Evidenz des Nutzens noch vor wenigen Wochen von den Erbringern medizinischer Leistungen weitgehend abgelehnt wurden, so Schultz. »Die Überwachung des Gesundheitszustands zu Hause, also Telemonitoring und Telemedizin werden zukünftig zum Standard gehören, genauso wie interdisziplinäre digitale Konsile zum Beispiel zur Betreuung von pflegebedürftigen oder multimorbiden (gleichzeitig an verschiedenen Krankheiten leidenden) Patientinnen und Patienten.« Er hofft, dass auch die Akzeptanz für den Austausch und die Verknüpfung von Gesundheitsdaten aus den verschiedenen Sektoren (klinische und ambulante Versorgung, Reha-Einrichtungen und nicht ärztliche Heilberufe) steigt, so dass »die Künstliche Intelligenz zum Nutzen von Patientinnen und Patienten eingesetzt werden kann.«
Die intersektorale Trennung ist laut Schultz eine große Schwäche unseres Gesundheitswesens. Jede Wirtschaftseinheit optimiere sich selbst, medizinisch und wirtschaftlich, stimme sich aber nur begrenzt mit anderen Akteuren ab und die Informationsqualität zwischen den Sektoren sei schlecht.
In den Augen von Schultz zeigt die Corona-Pandemie, dass eine interdisziplinäre Herangehensweise Probleme im Gesundheitswesen lösen kann. Die Arbeitsgruppe versucht daher in mehreren vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekten, einen Beitrag zur Bewältigung der aktuellen Probleme zu leisten. Schultz: »Wir beschäftigen uns zum Beispiel im Projekt Audio-PSS mit der tele-audiologischen Versorgung von Hörgeschädigten und im Projekt Living Smart mit dem Aufbau digitaler Dienstleistungsplattformen für die gegenseitige Unterstützung in Wohnquartieren. Der Frage nach der Organisation interdisziplinärer Forschung und Entwicklung zur Bewältigung der Pandemie widmen wir uns im Projekt Q-Aktiv.«
Autorin: Kerstin Nees
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