unizeit Schriftzug

Erst Covid, dann vergesslich

Woher rühren die Konzentrations- und Gedächtnisprobleme nach überstandener Coronainfektion? Was kennzeichnet sie und wie ist der Verlauf? Um diese Fragen beantworten zu können, werden in einer Studie Betroffene gründlich untersucht.

Zwei Personen mit Atemmasken an einem Tisch mit Computermonitor
© pur.pur

Julius Rave nutzt spezielle neuropsychologische Testverfahren, um Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Konzentration oder planerisches Denken zu charakterisieren. Rund zweieinhalb Stunden dauert die detaillierte Untersuchung.

Vergesslich, unkonzentriert oder erschöpft – eine Corona-Infektion kann Spuren im Gehirn hinterlassen, an denen Betroffene über Monate und eventuell sogar Jahre leiden. Julius Rave, der als Assistenzarzt in der Klinik für Neurologie des UKSH, Campus Kiel, arbeitet, kennt etliche solcher Fälle. »Wir sehen viele Menschen mit auffälligen Beschwerden in unserer Gedächtnissprechstunde. Jede Woche kommen etwa fünf bis sieben Personen in unsere Spezialambulanz. Das sind nicht nur solche, die eine schwere Covid-Erkrankung hatten. Auch Patientinnen und Patienten mit leichten Verläufen, die sich ambulant auskuriert haben, gaben an, dass sie nach der akuten Infektion kognitive Beschwerden bemerkten, die sie im Alltag stark einschränkten.« Genannt würden etwa eine verringerte Konzentration und Aufmerksamkeit, Wortfindungsstörungen sowie Störungen im Kurzzeitgedächtnis oder beim planerischen Denken. »Ein ‚zäher Gedankengang‘ oder ‚Nebel im Kopf‘ ist etwas, das wir relativ häufig in der Gedächtnisambulanz hören. Und die Betroffenen sind in großer Sorge, dass sie ihr früheres Leistungsniveau nicht mehr erreichen«, sagt Rave, der in der Forschungsgruppe für Demenz, Gedächtnisstörungen und Neuroplastizität (Leitung Professor Thorsten Bartsch) promoviert hat und sich innerhalb des DFG-geförderten Clinician Scientist-Programs in Evolutionary Medicine (CSEM, Leitung Professor John Baines) – siehe Kasten – zum Facharzt für Neurologie weiterbildet. Das strukturierte Programm bietet dem jungen Arzt neben der Tätigkeit in der Klinik Raum für die klinische Forschung.

In Anbetracht der Vielzahl von Betroffenen, die sich wegen derlei kognitiver Defizite hilfesuchend an die Ambulanz wandten, startete die Forschungsgruppe im April 2021 eine Studie zur weiteren Erforschung dieser Beschwerden. Mindestens 100 Patientinnen und Patienten werden hierfür zu mehreren Zeitpunkten nach einer COVID-19-Infektion mit speziellen neuropsychologischen Testverfahren sowie klinisch und neuroradiologisch untersucht. »Erstes Ziel ist, die kognitiven Beschwerden des Post-Covid-Syndroms genau zu charakterisieren. Zweitens interessiert uns, ob es eine bestimmte Gruppe gibt, die besonders betroffen ist. Und natürlich beobachten wir auch den Verlauf, also wann eine Besserung eintritt«, erklärt Rave, der zur Förderung der Studie das CANTAB-Forschungsstipendium 2021 eingeworben hat. Gestiftet wurde das Stipendium von dem Unternehmen Cambridge Cognition, das Tests für die präzise und objektive Messung der kognitiven Funktion entwickelt und vermarktet. Diese speziellen Tests werden zum Beispiel eingesetzt, um herauszufinden, welche Hirnareale betroffen sind und ob die Gedächtnisstörung eher in einer Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung begründet liegt, oder ob auch Schädigungen in anderen Bereichen wie zum Beispiel des Hippocampus vorliegen. Der Hippocampus ist von zentraler Bedeutung für die Gedächtnisbildung.

»Wir haben für die Patienten eine umfangreiche Batterie an Tests zusammengestellt, mit denen Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Konzentration oder planerisches Denken getestet werden. Zusätzlich nutzen wir standardisierte Fragebögen zur Einschätzung von Fatigue und zur Kontrolle von Emotionen. Die Testung dauert pro Person etwa zweieinhalb Stunden«, sagt Rave. Zwei Promovierende, Sarah Brouzi und Henrik Winter, sind bei der Durchführung der Tests beteiligt. Die Neuropsychologin Dr. Annika Hanert wertet die Ergebnisse aus. Daran schließt sich bei ausgewählten Patientinnen und Patienten eine weiterführende Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns an. Anhand der MRT-Bilder lassen sich Art und Ort der Schädigung aufspüren. »Wenn die Lokalisation der Störung klar ist, gilt es zu schauen, ob das eine funktionelle Störung oder ein struktureller Schaden ist. Oder anders ausgedrückt, ob die ‚Software‘ oder die ‚Hardware‘ beschädigt ist«, verdeutlicht Rave.

Die für Betroffene so wesentliche Frage, ob die Hirnfunktion irgendwann wieder vollständig hergestellt ist, lasse sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantworten. Und auch wie lange die Beschwerden anhalten, sei noch unklar, so Rave. »Einige hatten drei bis fünf Monate Beschwerden, andere waren ganz früh in der Pandemie betroffen und haben auch nach anderthalb Jahren nur eine leichte subjektive Besserung erfahren.«

Autorin: Kerstin Nees

Fortbildungsprogramm CSEM

CSEM steht für Clinician Scientists in Evolutionary Medicine (deutsch: Klinisch Forschende in der Evolutionären Medizin). Das Ausbildungsmodell fördert Forschungskarrieren von Ärztinnen und Ärzten in der Evolutionären Medizin. Es wird gemeinsam von der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel, dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön und der Lungenklinik Großhansdorf organisiert und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Das Programm richtet sich an Ärztinnen und Ärzte in der Facharztausbildung. Es ermöglicht ihnen eine fachliche Ausbildung und eine eigenständige Forschungskarriere in einem innovativen und in Deutschland einmaligen medizinischen Bereich. Die Prinzipien des evolutionären Denkens und Forschens werden in den Bereichen Antibiotikaresistenz, Onkologie, Neurologie, Hautbarriere, Entzündung, Mikrobiom und Alternsforschung angewendet. Ziel ist neben der Verbesserung der medizinischen Ausbildung insbesondere die weitere Verwurzelung evolutionsbiologischer Prinzipien in der medizinischen Forschung. (ne)

unizeit-Suche:

In den unizeit-Ausgaben 27-93 suchen