
Die Partitur der Vielstimmigkeit
Für viele Menschen zählt selbst in den heutigen, aufgeklärten Zeiten eigentlich nur die eigene Sichtweise. Dabei wusste man es schon in der Antike besser.

Herodot von Halikarnass lebte im 5. Jahrhundert vor Christus.
Herodot von Halikarnass lebte im 5. Jahrhundert vor Christus und hat seither vielerlei schmeichelhafte Attribute bekommen. Mal gilt er als erster Historiker oder Religionswissenschaftler, mal als der antike Völkerkundler schlechthin, mal als Geograph aus einer Zeit, die diese Wissenschaft eigentlich noch gar nicht kannte.
Für Andreas Schwab, seit September 2021 Professor für Gräzistik und Wissensforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, ist Herodot auf alle Fälle ein seiner Zeit weit enteilter Vordenker – und ein herausragender Protagonist der Polyphonie. Was komplizierter klingt als es ist, denn dieser Begriff bedeutet in der Literatur und erst recht in der Musik ganz einfach Vielstimmigkeit.
»Reisend die Stimmen und Ansichten vor Ort einfangen«, das ist es, was der antike Gelehrte nach Schwabs Worten schon vor mehr als 2.000 Jahren tat. Und zwar mit einer Herangehensweise, die auch nach heutigen Maßstäben als wissenschaftlich bezeichnet werden kann, wie der Gräzist betont: »Er hat sich bemüht, fremde Kulturen möglichst nüchtern und neutral zu beschreiben.« Tatsächlich hat Herodot auf seinen Reisen nach Ägypten oder Persien immer wieder auch Priester oder andere Protagonisten des öffentlichen Lebens zu Wort kommen lassen. Andreas Schwab hat für diese Vorgehensweise einen hübschen Begriff geprägt: »Herodotus inter-views«. Gemeint ist damit, dass der Grieche Fragen stellend mit anderen Menschen ins Gespräch kam und zugleich verschiedene »Views«, also Sichtweisen vermittelte.
Indes geht es Andreas Schwab nicht nur um diese einzelne Person. Im Lauf seiner Studien- und Forschungsjahre, die ihn unter anderem nach Heidelberg, Paris, Chicago und zuletzt für dreieinhalb Jahre auf eine Vertretungsprofessur an die Ludwig-Maximilians-Universität nach München führten, hat er vielmehr eine richtiggehende diachrone Partitur der Vielstimmigkeit erstellt.
»Bausteine zu einer polyphonen Religionsgeschichte der antiken griechischen Literatur« heißt das auf fünf Jahre angelegte Projekt, das Schwab innerhalb der sogenannten Heisenberg-Förderung für habilitierte, aber noch nicht berufene Kräfte in der Wissenschaft entwickelt hat. Zwar steht schon fest, dass der Gräzist der Universität Kiel über diese fünf Jahre hinaus erhalten bleiben wird, doch die Idee der Bausteine bleibt davon unberührt. Im ersten davon geht es um Stimmen über Religion in der klassisch-antiken Literatur von Homer bis zu Platon im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus. Denn mit den Dialogen Platons über Sokrates finden sich nach Einordnung des Professors auch schon in dieser Ära Vorläufer der Polyphonie.
Der zweite Baustein widmet sich dem Umgang von griechischen Autoren der Kaiserzeit wie Josephus, Diodor oder Origenes mit Religionen, die weder griechisch noch jüdisch noch christlich sind. »Wie halten es diese Autoren mit dem Fremden?«, nennt Schwab die Leitfrage über diesem Teil, dem als dritter die Auseinandersetzung mit religiösen Stimmen innerhalb der christlichen, jüdischen und griechischen Religionsgeschichte folgt.
Im Mittelpunkt steht dabei der Philologe und christliche Theologe Origenes als Prediger und Exeget. »Sehr kreativ und produktiv mit seinen Publikationen« war laut Schwab gerade dieser Denker, der unter anderem durch kunstvoll miteinander verwobene Stimmen aus dem Alten und Neuen Testament »hochinteressante Perspektiven« vermittelt.
So viele Facetten das Thema auch hat, so wichtig ist es dem Kieler Wissenschaftler, dass jede dieser Facetten mit Klischees aufräumt. Beispielsweise wirkten die hellen Köpfe aus grauer Vorzeit nicht nur innerhalb kleiner Eliten, sondern erreichten mit ihren Tragödien, Dramen und Komödien tausende Menschen. Und auch die Inhalte sind aus Sicht von Andreas Schwab keinesfalls angestaubt: »Was mich fasziniert, ist die Zeitlosigkeit dieser Diskurse.«
Autor: Martin Geist
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