
Was Terrorismus wirklich will
Der 11. September 2001 gilt vielen als prominentes Beispiel für das Verdrehen von Fakten, um politische Maßnahmen zu legitimieren. Tatsächlich aber ranken sich um das Phänomen Terrorismus schon viel länger Legenden – oder eben auch Fake News.

Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Carolin Görzig vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale hat sich profund mit älteren und neueren Formen des Terrorismus auseinandergesetzt. Unter dem Titel »Rätsel Terrorismus – Ein Blick in die Black Box« hält sie am 27. Januar einen Vortrag innerhalb der Ringvorlesung »Wissenschaft und alternative Fakten« an der Uni Kiel. In diese Reihe passt das Thema aus ihrer Sicht nahezu perfekt, denn der Terror regte schon immer die Phantasie der Leute an. Wie ticken die führenden Köpfe von Zirkeln, die mit Bomben Politik machen wollen? Wie wurden diese Menschen zu dem, was sie sind? Wie sieht das Innenleben von Terrororganisationen aus? »Auf solche Fragen lassen sich nur schwer Antworten finden, weil von der Natur der Sache her fast alles im Verborgenen stattfindet«, nennt Carolin Görzig eine Erklärung dafür, warum dieses Phänomen einen guten Nährboden für selbst die wildesten Spekulationen abgibt.
Und dann wäre da noch die pure Monstrosität der Verbrechen, die in den Flugzeugattentaten jenes 11. Septembers ihren bisherigen Höhepunkt fanden. Gemäß der Devise, dass hinter derlei unvorstellbaren Taten eine entsprechend spektakuläre Ursache stecken muss, erscheint der Verweis auf einen Zirkel islamistisch Fehlgeleiteter irgendwie zu profan. »Die US-Regierung selbst, wahlweise im Bund mit einer jüdischen, neokonservativen oder sonstwie gearteten Verschwörungstruppe wird zum Beispiel von der ‚Truther-Bewegung‘, der ‚Wahrheitsbewegung zum 11. September‘, herangezogen«, erläutert die studierte Politikwissenschaftlerin.
Auf der anderen Seite dient nach ihrer Analyse der Terrorismus an sich als Projektionsfläche, um Fakten zu verdrehen. Politik, Medien und auch Sicherheitsorgane pathologisieren demnach gern den Terror, obwohl dessen Ursachen vielfältig sind: »Da wird dann vorschnell vom psychisch kranken Einzeltäter gesprochen, statt auf mögliche Netzwerke zu schauen.«
Der Rechtsterrorismus konnte sich nach Görzigs Einschätzung auf diese Weise lange im Verborgenen entwickeln, während fast jede Tat, die von einer Person muslimischen Glaubens verübt wurde, alsbald in die Nähe von islamistischem Terrorismus gerückt wird. Terrorismus an sich – und genauso der öffentlich-mediale Umgang damit, zielt nach Analyse von Fachleuten wie Carolin Görzig vor allem auf die Köpfe, will mithin ein Klima der Hysterie und des gesellschaftlichen Misstrauens schaffen.
Ob unterdessen neuere Protestbewegungen das Potenzial haben, terroristische Auswüchse hervorzubringen, das hängt nach Meinung der Wissenschaftlerin auch stark von der Gesellschaft selbst ab. Selbsternannte Querdenkerinnen und Querdenker sollten jedenfalls im Auge behalten werden, rät sie. Und betont, dass es noch mit das beste Mittel gegen fatale Radikalisierung ist, den Dialog aufrechtzuerhalten.
Autor: Martin Geist
Wie man überhaupt zum Terrorismus kommt, was Anti-Terror-Maßnahmen bringen, wie sich Terrororganisationen unterscheiden und viele anderen Fragen behandelt Dr. Carolin Görzig in ihrem Online-Vortrag am 27. Januar um 18:30 Uhr. Zugang ausschließlich digital.
Weitere Informationen und Online-Teilnahme unter www.faktoderfake.org
Am Anfang stand das Impfen
Hunderttausende gingen im Frühjahr 2017 weltweit auf die Straßen, um sich unter dem Motto »March for Science« für die Freiheit von Wissenschaft und Forschung stark zu machen. Die Uni Kiel beteiligte sich an dieser Reaktion auf die Fake-News-Tiraden des damals neu ins Amt gekommenen US-Präsidenten Donald Trump in anderer Form und veranstaltete die Lange Vorlesungsnacht, die Night of the Profs, im Zeichen der Fakten. Daraus ging die Ringvorlesung »Wissenschaft und alternative Fakten« hervor, die inzwischen ihre neunte Auflage erlebt. »Wir wollten das etwas nachhaltiger angehen«, erläutert der Physiker Professor Michael Bonitz, der das Angebot aus der Taufe hob und heute von einem Team engagierter wissenschaftlicher Nachwuchskräfte unterstützt wird. Den richtigen Riecher bewiesen die Verantwortlichen dabei schon von Anfang an. Gleich im ersten Durchgang im Februar 2018 hieß das Thema »Die Wirksamkeit von Impfungen«.
Ob bei diesem oder allen anderen Vorträgen: Es geht neben den Inhalten vor allem auch um das Zustandekommen wissenschaftlicher Erkenntnisse. Also darum, dass Unvollständigkeiten, Fehlinterpretationen und regelrechte Irrtümer keine Betriebsunfälle, sondern selbstverständliche Bestandteile des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns sind, eines Systems, das die Fähigkeit zur stetigen Selbstkorrektur besitzt.
Die neunte Runde der Kieler Ringvorlesung endet nach dem Terrorismus-Vortrag am 27. Januar mit einem Vortrag von Professorin Maja Göpel, eine der Mitbegründerinnen der Bewegung Scientists for Future. Ihr Thema lautet: »Den Fakten ins Auge sehen. Wie aus Ehrlichkeit gesellschaftliche Innovationskraft entsteht.« (mag)
unizeit-Suche:
In der unizeit ab Ausgabe 93 suchen
In den unizeit-Ausgaben 27-93 suchen
unizeit #109
unizeit als PDF
Archiv
Kontakt
unizeit@uni-kiel.de
0431/880-2104
Abo, Feedback und Termine