Von der Wortstatistik in die Urgeschichte

Im Exzellenzcluster ROOTS untersucht Dr. Søren Wichmann Wortlängen in verschiedenen Sprachen. Dabei hat der Sprachwissenschaftler eine neue Verbindung zwischen Sprachwissenschaft und Archäologie aufgetan.

Grafik einer Weltkarte
© Søren Wichmann

Je größer die Bevölkerungszahl einer Region oder Stadt, desto kürzer sind die Wortlängen: Das ist das Ergebnis neuer Forschungen im Exellenzcluster ROOTS.

Tree, puu, fa, wadlata, siu, daraxt, isihlahla, pyebwa*: Das Wort Baum gibt es in allen Sprachen der Welt. Was auffällt, ist, dass die Wörter unterschiedlich lang sind. »In einigen der Sprachen haben sich die Wörter im Laufe der Jahrtausende geändert, sie sind kürzer geworden«, weiß Dr. Søren Wichmann vom Institut für Slawistik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der mit seiner Forschung im Exzellenzcluster ROOTS der Frage nach dem Warum nachgegangen ist. »Denn allein mit den Eigenheiten der jeweiligen Sprache oder Sprachfamilie lässt sich die Änderung nicht erklären.« Der Sprachwissenschaftler hat jetzt einen Zusammenhang zwischen Wortlängen und Bevölkerungsgrößen entdeckt – »eine Verbindung, von der wir nicht gedacht haben, dass es sie gibt«. Sein Fazit: »Je größer die Sprachgruppe, desto kürzer werden statistisch gesehen die Wörter.«

Die Erkenntnisse zu Bevölkerungszahl und Wortlänge hat Wichmann einem Zufall zu verdanken: »Dass es einen Zusammenhang geben könnte, ist uns bei der Arbeit am Projekt Automated Similarity Judgment Program (ASJP, auf Deutsch: Automatisiertes Ähnlichkeitsbeurteilungsprogramm) aufgefallen.« Seit 2008 beschäftigt sich der Däne als Projektkurator mit dem Computerprogramm, das die insgesamt rund 7.000 Sprachen der Welt im historischen Verlauf vergleicht. Ziele sind unter anderem, zu ergründen, wann und wie sich aus verschiedenen Sprachfamilien individuelle Sprachen entwickelt und wie sich die einzelnen Sprachen untereinander beeinflusst haben.

Für das Programm wurde eine Open-Access-Datenbank angelegt, in der jeweils 40 Grundwörter der Sprachen gesammelt werden. »Rund 73 Prozent aller Sprachen sind bereits in der Datenbank hinterlegt.« Zu den Grundwörtern gehören Bezeichnungen von Körperteilen, Tieren, Pflanzen, der Natur und des Menschen sowie Ordnungszahlen und Pronomen – »alles sehr stabile Worte, die sich im Laufe der Zeit nur sehr langsam verändern«, wie Wichmann betont.

Verräterische Wortlänge

Aufgefallen war dem Sprachwissenschaftler, dass diese Grundworte immer dort verändert und verkürzt wurden, wo sehr viele Menschen zusammenkommen, die die gleiche Sprache sprechen. Ein Beispiel: Das Wort »sehen« (nakku) ist in der bis 1965 von wenigen Menschen gesprochenen Sprache Barngaria in Australien deutlich länger als in der von circa 49 Millionen verwendeten Sprache Min Nan in China. Hier besteht das Wort aus lediglich dem Laut O.

Weil diese Veränderungen erst nach einigen Tausenden von Jahren sichtbar werden und dementsprechend die Datenmenge eher klein ist, sei das Zusammenspiel zwischen Wortlängen und Population bislang noch niemandem aufgefallen, so Wichmann. Erst durch die große Datenbank ließen sich viele weitere Beispiele finden und damit Muster erkennen. Eins dieser Muster zeigt sich in Gebieten wie Äquatorialafrika, Südostasien und Neuguinea: »Dort, wo frühzeitig Landwirtschaft betrieben wurde, sind die Wörter statistisch gesehen kürzer geworden«, hat Wichmann festgestellt. Die 250 bis 350 Sprachen Australiens bieten einen Kontrast, denn hier waren die Menschen in der Urgeschichte immer Jäger und Sammler. »Australien hat tatsächlich auch den Weltrekord der durchschnittlich längsten Wortlänge. Man braucht im Durschnitt rund fünf Buchstaben, um ein gewöhnliches Wort in einer australischen Sprache zu schreiben. Der Durchschnitt im Rest der Welt und zum Beispiel auch in Deutsch ist ziemlich genau vier Buchstaben. Das lässt den Schluss zu, dass dort, wo Menschen sesshaft wurden, Siedlungen gründeten und Ackerbau betrieben, Sprache sich vereinfacht und verkürzt«, nennt der Sprachwissenschaftler ein Ergebnis seiner Forschung auf Basis der Datenbank des ASJP. »Die entpuppte sich auch als gute Quelle, um Wortlängen zu untersuchen.«

Diese deutlichen Muster über die Jahrtausende lassen einen Blick in die Urgeschichte zu. »Es ist zu vermuten, dass die Wörter vor rund 10.000 Jahren eher länger waren. Mit den ersten Ansiedlungen von Menschen kam es zu einer Veränderung von Sprache«, sagt der Sprachwissenschaftler im Exzellenzcluster ROOTS. Das ist eine Erkenntnis, die nicht nur für sein Fachgebiet und die Philosophische Fakultät von Bedeutung ist, sondern auch für die Archäologie wertvoll sein kann. »Wir können mit dem Verweis auf die Wortlängen der Archäologie Hinweise geben, in welcher Region Grabungen nach frühen Siedlungen erfolgreich sein könnten«, so Wichmann.

Warum genau sich die Wortlängen über Jahrtausende änderten, kann Wichmann dennoch nur vermuten: Wachsende Population, Zuzug von Menschen, die die Sprache neu erlernen mussten, mehr Kommunikation durch zusätzliche Aufgaben – das alles könnten Gründe sein, warum sich komplexe Sprache mit der Zeit vereinfacht haben könnte – und auch in Zukunft weiter vereinfachen wird. »Das betrifft nicht nur die Wortlängen, sondern auch die Grammatik. Hieran zeigt sich, wie lebendig Sprache ist.«

Autorin: Jennifer Ruske

*Lösung: Tree (Englisch), puu (Finnisch), fa (Ungarisch), wadlata (Barngaria/Australien), siu (Min Nan/China), daraxt (Usbekisch), isihlahla (Zulu), pyebwa (Haitianisch).

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