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Pressemeldung Nr. 102/2018 vom 19.04.2018 | zur Druckfassung | Suche

Sexualität und Gender in der Einwanderungsgesellschaft


Foto/Copyright: Raissa Maas, Uni Kiel

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Sexualität ist politisch – auch und gerade in der Einwanderungsgesellschaft. Spätestens die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015/16 lösten Debatten über die innere Sicherheit und die Integration von Geflüchteten aus. Fest steht, dass sich mit den zugewanderten Menschen auch Wertvorstellungen und Verhaltensstandards in Deutschland verändern. Es gilt, Geschlecht(er), Geschlechterverhältnisse und Sexualität auszuhandeln. Wie das geschehen kann, ist jedoch die große Frage. Antworten schlagen neben Uwe Sielert, Professor für Sozialpädagogik von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), 33 weitere Forscherinnen und Forscher sowie in der Praxis arbeitende Fachpersonen aus ganz Deutschland vor. In einem neuen Lehr- und Praxishandbuch über „Sexualität und Gender im Einwanderungsland“ präsentieren sie Politiken, Strategien und Konzepte zum Umgang mit Sexualität und Gender.

Öffentliche und zivilgesellschaftliche Personen übernehmen hier wichtige Aufgaben. Das betonen die Herausgebenden Professor Uwe Sielert, Professorin Helga Marburger und Professorin Christiane Griese, beide von der Technischen Universität Berlin. Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Fachdisziplinen und Arbeitsbereiche wie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Schulen oder Beratungsstellen bieten sie mit dem neuen Werk eine mehrdimensionale Sicht auf Handlungsfelder in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Es soll dabei helfen, eigene und fremde Perspektiven auf gelingende Sexualität und Geschlechterverhältnisse zu verstehen, auszuhandeln und Lernen auf allen Seiten zu befördern.

Anja Henningsen, Juniorprofessorin für Sexualpädagogik mit dem Schwerpunkt Gewaltprävention an der CAU, und ihre Institutskollegin Inga Marie List beleuchten beispielsweise Konflikt- und Integrationserfahrungen an einem sogenannten „Brennpunktgymnasium“ in Schleswig-Holstein. Im Sommer 2016 wandte sich ein Lehrer an sie. Er schilderte ein „aufgeheiztes Klima“ durch ein nahe gelegenes DaZ-Zentrum (Klassen für Deutsch als Zweitsprache) und damit verbundene Spannungen zwischen Mädchen und Jungen der Regel- und DaZ-Klassen. So befragten Henningsen und ihr Team 17 Jugendliche des Gymnasiums, um zu erfahren: Wie moderiert die Schule Vielfalt und wie lernen Schülerinnen und Schüler Integration? Im Mittelpunkt standen die Schnittstellen Ethnizität und Geschlecht.

„Mit einer Türkisch- oder Flüchtlings-AG ist die Arbeit nicht getan“, fasst Henningsen ihre Eindrücke zusammen. Die Initiative sei zwar gut, wirke aber teilweise kontraproduktiv. Das zeigen die Schilderungen der Befragten aus der siebten bis neunten Klasse. So werde einerseits von „Muttergefühlen“ gegenüber Geflohenen berichtet, andererseits würden die migrantischen Schüler zu wenig Anpassungswillen zeigen. Ein Kind mit Migrationshintergrund fühlt sich schlechter benotet, weil es „einfach anders“ sei. Viele Aussagen sind nach Ansicht des Forschungsteams Wahrnehmungen ungleicher Behandlung, Stereotype und Abgrenzungen zwischen „normal“ und „anders“. „So agieren die Jugendlichen miteinander nicht auf Augenhöhe. Das ist ernüchternd, aber durchschnittliche Normalität“, weiß Henningsen. Lehrkräfte seien hier stärker gefordert. Sie sollten ihre Integrationsarbeit kontinuierlich kritisch überprüfen, um Vereinseitigungen zu vermeiden. Die Schulsozialarbeit und pädagogische Fachstellen können sie dabei unterstützen.

Die ohnehin vorhandene Pluralisierung der deutschen Gesellschaft wird durch Einwanderungsbewegungen zusätzlich herausgefordert. Deshalb appelliert Uwe Sielert, den Blick nicht ausschließlich auf das Herkunftsland oder den Glauben zu richten: „Uns muss bewusst sein, dass die Gruppe der Geflüchteten sehr heterogen ist. Wir müssen genauer hinsehen und mit den Menschen ins Gespräch kommen.“ Für Jugendliche mit Migrationshintergrund sei die sexuelle Identitätsfindung dabei besonders schwierig. Viele gehen einen Mittelweg zwischen den tradierten Auffassungen ihrer Familie und dem postmodernen Selbstverwirklichungskonzept, das Freundinnen und Freunde leben. „Sexueller Optimierungsstress“ könne in allen Alters- und Gesellschaftsgruppen auftreten und zu Frustration führen.

Gerade im Bereich der Bildungsarbeit brauche es deshalb qualifizierte pädagogische Fachkräfte, die offen auch Gender- und Sexualitätsvorstellungen ansprechen, rät Helga Marburger, selbst Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft der TU Berlin. Lehrkräfte, Kita-Personal, ehrenamtlich Engagierte, Polizistinnen und Polizisten – sie alle wirkten mit an der interkulturellen Öffnung. Marburger: „Deutschland ist über die Jahre zu einem der größten Einwanderungsländer der Welt geworden. Unbestreitbar zeigen sich jedoch auch uneingelöste Lösungsversprechen, ausgrenzende Strukturen, Vorurteile und Diskriminierungstatbestände.“

Im Institut für Pädagogik der CAU werden die Themen „sexuelle Bildung und Gewaltprävention“ mit der „Vermittlung von Diversitätskompetenz“ bereits in der Forschung wie auch in der Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen verbunden. „Es sind gute Voraussetzungen für eine Verstetigung dieses Kompetenzzentrums gegeben“, sagt Sielert. Um die emotional geführten politischen Debatten zu versachlichen und die Lebensweisen von Einheimischen als auch Migrantinnen und Migranten im Bereich der Geschlechterverhältnisse und Sexualität zu erheben, fordern die Fachleute weitere Forschungsgelder.

Weitere Informationen:
Uwe Sielert, Helga Marburger, Christiane Griese (Herausgeber), „Sexualität und Gender im Einwanderungsland. Öffentliche und zivilgesellschaftliche Aufgaben – ein Lehr- und Praxishandbuch“, De Gruyter Oldenbourg, Oktober 2017, 371 Seiten, ISBN 978-3-11-051834-4, 34,95 Euro.

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Am Donnerstag, 19. April, stellten Professor Uwe Sielert (Institut für Pädagogik, CAU), Professorin Helga Marburger (Institut für Erziehungswissenschaft, Technische Universität Berlin, links im Bild) sowie Anja Henningsen (Juniorprofessorin für Sexualpädagogik und mit dem Schwerpunkt Gewaltprävention, CAU, rechts im Bild) ihre Ergebnisse vor.
Foto/Copyright: Farah Claußen, Uni Kiel

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Kontakt:
Prof. Dr. Uwe Sielert
Institut für Pädagogik der Uni Kiel
Tel.: 0431/880-6447
E-Mail: sielert@paedagogik.uni-kiel.de

Prof. Dr. Anja Henningsen
Institut für Pädagogik der Uni Kiel
Tel.: 0431/880-1297
E-Mail: henningsen@paedagogik.uni-kiel.de



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Text / Redaktion: Raissa Maas