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Große Forscher und Forscherinnen von der Förde:
Erich Schneider
Wirtschaftswissenschaftler, bedeutender Wirtschaftstheoretiker, 1946 bis 1969 Professor für theoretische Volkswirtschaftslehre in Kiel, 1961 bis 1969 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft

Erich Schneider
(1900 - 1970)
Erich Schneider war zu seiner Kieler Zeit der wohl einflussreichste Wirtschaftstheoretiker in Deutschland. In den Jahren von 1946 bis 1952 schrieb er sein Lebenswerk, die zunächst dreibändige ›Einführung in die Wirtschaftstheorie‹, die dann 1962 um einen vierten Band erweitert wurde. Sein bleibendes Verdienst ist es, dass er mit dieser ›Einführung‹, die von Kiel aus zu einer generellen Neukonzeption des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums an deutschen Hochschulen führte, nach Hitlerzeit und Zweitem Weltkrieg den Anschluss der deutschen Nationalökonomie an das internationale Niveau wiederherstellte. Dazu war Schneider insofern prädestiniert, als er seit 1936 an der Universität Århus in Dänemark einen Lehrstuhl für Managerial Economics innehatte, was ihm in der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges eine unabhängige Rezeption der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung außerhalb Deutschlands ermöglichte. Ganze Studentengenerationen haben nach dem Kriege in Deutschland mit »dem Schneider« als dem maßgeblichen Lehrbuch, das in sieben Sprachen übersetzt wurde, Volkswirtschaftslehre studiert. Die Fruchtbarkeit der dänischen Jahre als Basis, verbunden mit späteren intensiven Forschungen, die Exaktheit der Gedankenführung, die Anwendung formaler Methoden und nicht zuletzt die exzellente Didaktik machten Schneiders ›Einführung‹ zum Standardwerk an deutschen Universitäten. Manche Zeitgenossen haben es mit Alfred Marshalls ›Principles‹ und Paul Samuelsons ›Economics‹ auf eine Stufe gestellt.
Die ›Einführung‹, in der sich Schneiders Sichtweise der modernen Nationalökonomie widerspiegelte, war ein Bruch mit der Historischen Schule, sie war eine Synthese der damaligen Interpretation der Keynesschen und der skandinavischen – insbesondere Wicksellschen – Wirtschaftstheorie, gepaart mit walrasianischen Vorstellungen des totalen Gleichgewichts und den Ansätzen paretianischer Denkkategorien. Diese Mixtur aus Makro und Mikro erklärt, weshalb Schneider zeitlebens für die Einheit von Volks- und Betriebswirtschaftslehre plädierte. Obwohl er ein Schüler Schumpeters war, bei dem er sich 1932 mit einer Arbeit über die ›Reine Theorie monopolistischer Wirtschaftsformen‹ habilitierte und den er ungemein bewunderte, findet man die Österreichische Schule im wirtschaftstheoretischen Denken Schneiders eigentlich nicht.
Die Erklärung mag in der methodologischen Position liegen, die Schneiders Wissenschaftsverständnis dominierte. Zunächst hatte er Mathematik und Physik studiert, bevor er sich den Wirtschaftswissenschaften zuwandte. Sein Weltbild war demgemäß geprägt von den Naturwissenschaften, insbesondere von der mechanischen Physik mit ihren streng deduktiven Ableitungen und exakten ›Gesetzen‹, die er in Analogie auf eine vermutete Mechanik der Marktvorgänge übertrug. In diesem Kontext gilt es dann, grundlegende Regelmäßigkeiten aufzudecken, denen der homo oeconomicus mit seinem nutzenmaximierenden Verhalten unterliegt und die wie in den Naturwissenschaften in gesetzesähnlicher Form für Analysen und Prognosen verwendbar sind. Für Schneider gerannen ökonomische Aussagen zu mathematischen Theoremen, die als wissenschaftliche Theoreme von jedem, der logisch denken könne, als richtig oder falsch eingesehen werden müssten. Zwischen einem ökonomischen Satz und dem Satz von Pythagoras bestehe kein grundsätzlicher Unterschied. Eine solche Sichtweise war der Österreichischen Schule im Wesentlichen fremd, sie orientierte sich weniger an den Naturwissenschaften als vielmehr an den Besonderheiten der Sozialwissenschaften mit ihren evolutionären spontanen und deshalb weniger exakt vorhersehbaren Resultaten. Schneiders prinzipielle Vorstellung einer Art gütermäßiger Physik der Marktprozesse und die deterministisch-formaltheoretische Stringenz ihrer Analytik kontrastierte dann auch vehement mit der evolutionstheoretischen Position eines Friedrich A. von Hayek, den Schneider 1968 zu einem der von ihm begründeten »Kieler Vorträge« ins Institut für Weltwirtschaft einlud und der seine später so berühmt gewordenen Gedanken zum »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren« vortrug. Hayek skizzierte damit den im Wettbewerb systemisch angelegten spontanen Suchprozess der Marktteilnehmer nach Neuem, dessen Ergebnis nicht ex ante voraussehbar, also am Reißbrett planbar sei. Der Vortrag endete in gebührlichem Streit zweier entgegengesetzt denkender großer Ökonomen, von denen der Eingeladene bekanntlich später den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Man mag diesen fundamentalen Streit in die Frage kleiden: Kann man das Spontane eines Hayek in die Formeln eines deterministisch denkenden Schneider fassen?
Schneider bewunderte diejenigen, die in der Praxis als Unternehmer agieren, und insofern war er ein echter Schüler Schumpeters. Aber er hatte eine ausgeprägte Distanz zur praktischen Politik, denn er fühlte sich ganz und gar als Gelehrter, der im Sinne von Max Weber zu trennen habe, wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen und zu handeln. Der wirkliche Gelehrte sei der Gelehrte aus Leidenschaft, der in der praktischen Welt scheitern müsse. Deshalb waren die Kollegen, die aus der Akademia in die Praxis gingen, für ihn nie wahre Gelehrte gewesen. Wissenschaftstheoretische Fragen, methodologische Exkurse waren ihm fremd, er hielt sie für Zeitverschwendung. Mit dieser Sicht der Dinge, mit seiner Klarheit im schriftlichen Werk und seiner Überzeugungskraft im gesprochenen Wort war er so großartig – manche sagen: gefährlich – überzeugend, dass er es durchaus verstand, seine Studenten und Assistenten zu einer Art Glaubensschülern zu machen: Er hatte und verbreitete einen festen Glauben an die Steuerbarkeit der Wirtschaft und einen geradezu unerschütterlichen Optimismus, die Gratwanderung zwischen Inflation und Rezession fest im Griff zu haben. Das Problem Arbeitslosigkeit sei endgültig gelöst, und in diesem Glauben war er gewiss kein Einzelgänger seiner Zeit, die man als die hohe Zeit des Keynesianismus bezeichnen kann.
Erich Schneider war überzeugter Keynesianer, und mit seinem dritten Band der Einführung: ›Geld, Kredit, Volkseinkommen und Beschäftigung‹ setzte er die allgemeine Keynes-Rezeption in Deutschland durch. Bis zuletzt hat er den Keynesianismus gegen seine Kritiker, vor allem aus dem monetaristischen Lager, verteidigt. Aber Schneider war kein Fundamentalist, er war überhaupt nie ein Dogmatiker. Wohl am treffendsten wäre Schneider als reduktionistischer Keynesianer zu bezeichnen, der die Interpretation des Keynesschen Systems, wie sie durch seinen Zeitgenossen John Hicks erfolgte, verinnerlichte. Sie mag etwas Hydraulisches besitzen, wenn man die Staatsausgaben und -einnahmen im Sinne einer »Keynes-Maschine« als mechanisch rauf und runter handhabbar betrachtet, um Konjunktur und Beschäftigung exakt zu steuern. Den Begriff Hydraulik, der erst später in die Keynes-Rezeption eingegangen ist, hätte Schneider vermutlich nicht abgelehnt, denn er verglich die Rolle des Wirtschaftswissenschaftlers stets mit der eines Ingenieurs, der die Gesetze der Ökonomie in quasi naturwissenschaftlicher Stringenz aufzudecken und anzuwenden habe.
Als Wissenschaftler war Schneider ein unerschütterlicher Optimist, was mit seiner sonstigen eher pessimistischen Lebenseinstellung kontrastierte. Von Schumpeter übernahm er die Vorstellung, dass das »Meer der Tatsachen« stumm sei und dass sich die hinter den Tatsachen wirkenden Zusammenhänge erst offenbarten, wenn man mit sinnvollen, aus einer Theorie gewonnenen Fragestellungen an das Tatsachenmeer herangehe. Aus dieser Sicht der Dinge entsprang wohl Schneiders Vorstellung vom Fortschritt des Wissens als einem asymptotischen Prozess, der den Bereich des Nichtwissens immer mehr einengt: Je mehr man weiß, desto weniger weiß man nicht. Diese Vorstellung einer quasi konstanten Faktenmenge dieser Welt, die es sukzessive zu erkunden gelte und an deren Suchprozess sich zu beteiligen primäre Aufgabe des Wissenschaftlers sei, mag den grenzenlosen Wissenschaftsoptimismus Erich Schneiders, basierend auf einem kumulativen Fortschrittsglauben, erklären. Sein Wunsch war es, eines der Mitglieder einer wissenschaftlichen Ahnenreihe zu werden, die dem ständig wachsenden theoretischen Erkenntnisfortschritt Bausteine hinzufügen. Eine Schule, eine Schneider-Schule gar, wollte er allerdings nie gründen. Dennoch treffen sich alle zwei Jahre Erich-Schneider-Schüler, die rund um die Welt verstreut sind, zu wissenschaftlichen Symposien unter dem spirituellen Dach ihres akademischen Lehrers.
In seinem wissenschaftlichen Bestreben war Schneider, der ansonsten das wirtschaftswissenschaftliche Aktivitätsfeld der Kieler Fakultät ebenso wie das Herausgebergremium des ›Weltwirtschaftlichen Archivs‹ – der Zeitschrift des Instituts für Weltwirtschaft – absolut dominierte, bemerkenswert bescheiden. Immer wieder forderte er zur Demut gegenüber denjenigen auf, die unsere geistigen Vorfahren seien. »Wir sind nichts und werden nichts durch uns selbst, wir stehen alle auf den Schultern unserer Ahnen«. Wohl nicht zuletzt aus dieser Sicht heraus schrieb Schneider seinen vierten Band der ›Einführung‹, in dem er den Leser mit ausgewählten Kapiteln der Geschichte der Wirtschaftstheorie und seiner eigenen Faszination für diese Geschichte nach wie vor infizieren kann. Vielleicht ist dieser Band das genialste Opus Erich Schneiders. Vieles daraus hat er auf einer Schallplatte festgehalten, die seine Abschiedsvorlesung im Dezember 1968 dokumentiert. Schon damals, also vor fast vierzig Jahren, beklagte er übrigens den Zustand der deutschen Universität, die durch permanente politisch initiierte Reformen die Wissenschaftlichkeit zunehmend verlöre. Mit den Studentenunruhen der 68er Zeit hatte er durch seine dominierende Persönlichkeit und unübertroffene Schlagfertigkeit keine Schwierigkeiten.
Erich Schneider war ein tiefreligiöser Mensch. Die Armut in der Welt beschäftigte und besorgte ihn, obwohl er – im Gegensatz zu vielen seiner Schüler – sich wissenschaftlich nie tiefergehend mit der Verteilungstheorie befasst hat. Weil die Welt ungerecht sei, müsse man für die Gerechtigkeit wirken. Dieser aber müsse man Vernunft geben, weil sie im Grunde absurd sei. Zugleich plädierte Schneider leidenschaftlich für das Privateigentum als Garant individueller Freiheit: Ohne Privateigentum könne man nicht unabhängig sein, sei niemand frei. Schneider war belesen, ihn faszinierten die großen Figuren der Geschichte. Er verstarb kurz vor seinem 70. Geburtstag während einer Vortragsveranstaltung in der Kieler Deutsch-Nordischen Burse – auf der Bühne also, die er so sehr liebte.
Obwohl Erich Schneider nichts mit den Ordoliberalen der Freiburger Schule zu tun haben wollte, mit Walter Eucken und Wilhelm Röpke etwa, die das ordnungspolitische Fundament legten für das als Soziale Marktwirtschaft bezeichnete Wirtschaftssystem in Deutschland, war er gleichwohl ein leidenschaftlicher Streiter für die Marktwirtschaft und beklagte deren intellektuelle Demontage: »Unser Wille«, so schreibt er, »unter die Überwachung des Staates gestellt, würde alle unsere Fähigkeiten verkümmert sehen.« Dies ist das Bekenntnis eines großen Gelehrten, eines charismatischen Hochschullehrers und einer faszinierenden Persönlichkeit der Kieler Universität.
Prof. Wolf Schäfer
Institut für Theoretische Volkswirtschaftslehre
Erstveröffentlicht in: Christiana Albertina, Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Ausgabe 59
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