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Nr. 51, 13.12.2008  voriger  Übersicht  weiter  REIHEN  SUCHE 

Zwischen Guru und Herdentrieb

Außenstehenden erscheint die Börse als der reinste Hühnerhaufen. Volkswirte indes forschen nach ihrer inneren Ordnung.


Foto: Picture Alliance

Selbst noch so abstrus anmutendem Gebaren muss eine bestimmte Logik zugrunde liegen, die es nur freizulegen gilt. Dies ist eine der grundlegenden Annahmen der verhaltenstheoretischen Modelle, mit denen eine Gruppe von Wissenschaftlern um Professor Thomas Lux bereits seit mehreren Jahren arbeitet.

Und das durchaus mit Erfolg. Volkswirt Lux hat sich mit dem Physiker Professor Friedrich Wagner und dem Mathematiker Professor Albrecht Irle Kompetenz aus anderen Disziplinen gesichert und theoretische Modelle entworfen, die das Auf und Ab an den Finanzmärkten bemerkenswert wirklichkeitsnah widerspiegeln. Im Grundsatz arbeitete das interdisziplinäre Team dabei mit zwei Typen von Marktteilnehmern: Die einen versuchen, aus Prozessen der Vergangenheit Trends für die Zukunft abzuleiten. Dabei könnte etwa die Strategie herauskommen, kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen Aktien zu kaufen, weil die Kurse erfahrungsgemäß nach der Wahl immer und unabhängig vom Ausgang steigen. Den anderen hingegen ist das zu viel der Kaffeesatzleserei. Sie halten sich deshalb laut Lux eher an so etwas wie den »realen Wert« einer Firma, setzen beispielsweise die Eigenkapitalquote einer Firma ins Verhältnis zum aktuellen Kurswert.

Das Problem bei den bisherigen Rechenspielen der Kieler Forscher besteht darin, dass wirklichkeitsnahe Ergebnisse nur dann herauskommen, wenn die Zahl der imaginären Marktteilnehmer im mittleren Bereich liegt, also bei etwa 10.000. Werden es deutlich mehr, greift das Gesetz der großen Zahlen, und es gibt weder nach unten noch nach oben große Ausschläge.

Wer in den vergangenen Monaten das tatsächliche Geschehen an den Börsen mit Kursschwankungen von oft fünf Prozent oder mehr von einem Tag zum anderen im deutschen Leitindex Dax beobachtet hat, kann nachvollziehen, dass die Konstanz solch theoretischer Modelle trügerisch ist.

Also überlegten sich die Wissenschaftler, wie es sein kann, dass in der echten Finanzwelt trotz einer sehr großen Zahl von Marktteilnehmern immer wieder sehr starke Schwankungen auftreten. An dieser Stelle griff erneut eine Gedankenkonstruktion aus den Naturwissenschaften: die Netzwerktheorie, die üblicherweise in Feldern wie der Erforschung des Internets oder bei der Analyse der Ausbreitung von Krankheiten eine Rolle spielt.

In dieser Theorie arbeiten die Simulationen mit zwei anderen Typen von Marktteilnehmern. Die größere Zahl ist beeinflussbar und hält sich an Tipps aus Zeitungen, Internetforen oder von Anlageberatern. Eine Minderheit handelt dagegen autonom, gibt sich mithin beratungsresistent und vertraut ihrem eigenen Näschen.

Interessant an dem Konstrukt ist, dass nach den Worten von Professor Lux die einen wie die anderen Netzwerke bilden. Und zwar oft ohne dass es ihnen bewusst ist. Selbst dem autonomen Akteur ergeht es so, weil er sich bei entsprechendem Erfolg in die Rolle eines »Gurus« begibt, der schnell eine gewisse Zahl von Nachahmern findet. Real existierende Vertreter dieser Gattung sind prominente Spekulanten wie Warren Buffett oder auch der verstorbene André Kostolany. Entscheidend für das Kieler Projekt ist dabei, dass die Sogwirkung solcher meist weit weniger prominenten Solisten groß genug ist, um im Finanzmarkt der Trägheit der großen Zahl entgegenzuwirken. Dies umso mehr, als der autonome Guru und seine Nacheiferer ihrerseits ein Stück weit auch die Beeinflussbaren beeinflussen, so dass ein komplexes Geflecht an Beziehungen entsteht.

Wie sich dieses Geflecht im Detail gestaltet, erforschen Lux und seine Kollegen seit einem Jahr innerhalb des auf drei Jahre angelegten Projekts ›Finanzmärkte als komplexe Netzwerke‹, das von der VW-Stiftung mit etwa 300.000 Euro gefördert wird. Das Ziel ist dabei rein wissenschaftlicher Art, betont der Kieler Volkswirt: »Es geht darum, besser zu verstehen, wie das Ganze funktioniert, wie das Herdenverhalten auf der einen Seite und die Rolle der Autonomen auf der anderen Seite zusammenwirken.« Todsichere Anlagestrategien hingegen lassen sich aus dem Projekt nicht ableiten. Dazu muss jeder schon seinen eigenen Guru finden. Oder auch nicht.

Martin Geist
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