Probleme der Gegenwart in der Jungsteinzeit
Moderne Megastädte kämpfen mit sozialen Spannungen, Ressourcenhunger und Umweltverschmutzung. Vergleichbare Probleme gab es offenbar schon vor 5.700 Jahren. Führten sie zum Niedergang einer Großsiedlung in der heutigen Ukraine?
Der Archäologe René Ohlrau wirkt selbst fast ein bisschen erstaunt, wenn er die Zahlen zu seinem Forschungsobjekt referiert. Zwar beschäftigt sich der Doktorand der Graduiertenschule „Human Development in Landscapes« bereits seit mehreren Jahren mit den Überresten der kupferzeitlichen Siedlung Maidanetske, gelegen an einem Zufluss des Südlichen Bug in der Ukraine, doch für damalige Verhältnisse sind die Ausmaße wirklich außergewöhnlich. Während die Menschen im heutigen Norddeutschland noch in kleinen Weilern mit zehn bis 50 Personen zusammenlebten, schätzen Ohlrau und sein Doktorvater Professor Johannes Müller die Einwohnerzahl von Maidanetske auf mindestens 11.000 – und das vor 5.700 Jahren.
»Mich interessiert, ob diese Siedlungen zeitgleich existierten oder nacheinander errichtet wurden. Letzteres könnte bedeuten, dass die Menschen zwar prinzipiell bereits sesshaft waren, ihre Siedlungen aber bei Bedarf verlegten.«
Bis zu 3.000 teils zweistöckige Häuser verteilten sich auf einer Fläche so groß wie 200 Fußballfelder – nicht zufällig angeordnet, sondern konzentrisch um einen offenbar unbebauten Platz.

Das Geomagnetik-Bild verdeutlicht die Ausmaße und die konzentrische Struktur der kupferzeitlichen Siedlung Maidanetske. Jedes Rechteck stellt die im Boden verborgenen Reste eines abgebrannten Gebäudes dar. Das kleine Bild zeigt das Modell eines Tripolje-Hauses, wie es bei Ausgrabungen gefunden wurde.
Hierin sieht René Ohlrau einen möglichen Grund dafür, dass die Menschen Maidanetske schon bald wieder aufgaben. »Wir haben deutliche Belege, dass die Siedlung weniger als 150 Jahre bewohnt war. Gerade in Anbetracht des enormen Arbeitsaufwands Bau der zahlreichen Gebäude, die zudem offenbar in großer Zahl bei Aufgabe der Siedlung absichtlich niedergebrannt wurden, eine über raschend kurze Zeitspanne«, findet der Archäo loge. Und das sei kein Einzelphänomen: »In der zentralukrainischen Waldsteppe gab es zwischen 4.100 und 3.700 vor unserer Zeitrechnung eine ganze Reihe solcher Großsiedlungen, teils im Abstand von nur acht bis zehn Kilometern, die alle vergleichbar kurzlebig waren«, erläutert Ohlrau.
Er stützt sich dabei auch auf Erkenntnisse mehrerer Kooperationspartner, etwa von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Durham. »Mich interessiert, ob diese Siedlungen zeitgleich existierten oder nacheinander errichtet wurden. Letzteres könnte bedeuten, dass die Menschen zwar prinzipiell bereits sesshaft waren, ihre Siedlungen aber bei Bedarf verlegten.«
Dieser Bedarf könnte dann entstanden sein, wenn die natürlichen Ressourcen wie Weide- und Ackerland, Holz und Frischwasser in einem so großen Umkreis erschöpft waren, dass eine Großsiedlung nicht mehr mit vertretbarem Aufwand zu versorgen war. Selbst bei Flusswasser konnten solche Probleme auftreten: »Wenn über 10.000 Personen in einer Siedlung ohne Kanalisation oder Klärwerk direkt an einem Fließgewässer leben, dann möchte ich nicht zu denen gehören, die ihr Trinkwasser am unteren Dorfende entnehmen müssen«, sagt René Ohlrau.
Es gibt aber noch eine weitere Theorie, warum die Großsiedlung so bald wieder aufgegeben wurde: Die Gemeinschaft funktionierte nicht. Ohlrau erklärt: »Möglicherweise gab es verschiedene Gruppen innerhalb der Einwohnerschaft und daraus resultierend eine wachsende soziale Ungleichheit.« Als Hinweis darauf werden die Größenunterschiede zwischen den Gebäuden interpretiert, außerdem bildeten sich offenbar mehrere Nachbarschaften oder Viertel innerhalb der Siedlung heraus.
Auch ein Zusammenwirken sozialer, ökonomischer und ökologischer Faktoren schließt Ohlrau zum jetzigen Zeitpunkt nicht aus: »Dafür wissen wir noch zu wenig über den Niedergang der Siedlung«. Neben einem spannenden Blick in die Vergangenheit sieht er seine Forschung jedenfalls auch als kleinen Beitrag zur Bewältigung großer Probleme, welche die Menschen in neuzeitlichen Slums und Megastädten ebenso beschäftigen wie im kupferzeitlichen Maidanetske.
Jirka Niklas Menke
Bilder von den Ausgrabungen in Maidanetske und Talianka, wo ein britisches Team arbeitet, zeigt bis zum 15. Februar eine kleine Ausstellung in der Leibnizstraße 3, Foyer. Öffnungszeiten: montags bis freitags 8 bis 18 Uhr
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