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Nr. 86, 09.04.2016  voriger  Übersicht  weiter  REIHEN  SUCHE 

Verzicht als Druckmittel

Gründe für einen Boykott von Waren oder Unternehmen gibt es zur Genüge – und das nicht erst seit Shell den Öltank »Brent Spar« im Meer versenken wollte. In seiner Dissertation am Historischen Seminar arbeitet Martin Gerth die Geschichte des Konsumboykotts in Deutschland auf.


GreenpeaceAktivisten besetzten 1995 die ausrangierte Ölplattform Brent Spar in der Nordsee. Sie protestierten damit gegen deren geplante Entsorgung im Meer. Viele Deutsche boykottieren daraufhin Tankstellen des Plattform-Besitzers Shell. Für den Konzern zog das erhebliche Umsatzeinbußen nach sich. Foto: Greenpeace

Der »Lieblingsboykott« von Martin Gerth ist der Berliner Bierboykott aus dem Jahr 1894. »Das war ein typischer Boykott für diese Zeit«, sagt der Doktorand in der Abteilung Geschichte der Neuzeit (Leitung: Professorin Gabriele Lingelbach). Zur Unterstützung des Arbeitskampfes der Brauereibelegschaft riefen Gewerkschaften dazu auf, das Bier der jeweiligen Brauerei nicht mehr zu trinken. Dies bedurfte guter Organisation, wie Gerth verdeutlicht: »Es mussten Boykottlisten gedruckt und regelmäßig aktualisiert werden. In diesen Listen wurden die Gaststätten aufgeführt, die zu meiden waren. Und es musste Ersatzbier beschafft werden.«

Der Boykott dauerte insgesamt acht Monate und am Ende waren über 30 Brauereien betroffen. Folgen hatte das für alle Beteiligten, positive wie negative. Es gab Entlassungen und Umsatz­einbußen bei Brauereien und Gaststätten. »Ich glaube, alle haben sich gefreut, als es vorbei war. Aber es hat auch das Druckmittel Boykott populär gemacht«, so Gerth.

In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt betrachtet der Historiker ausgewählte Boykottbeispiele aus unterschiedlichen Jahrzehnten »als katalysatorische Momen­te der Durchsetzung soziomoralischer und politischer Intentionen über Märkte«. Dabei interes­sieren ihn Anlässe, Ziele und Gründe von Boykotten, die auch Rückschlüsse auf gesell­schaft­liche Dynamiken zulassen. »Ich schaue mir die Aufrufe an: Welche Akteure waren daran betei­ligt? Aus welchem Anlass und zu welchem Zweck wurde zu Boykotten aufgerufen?« Der Unter­suchungszeitraum beginnt um 1890.

Um diese Zeit entstand auch der Begriff Boykott. »Namensgeber« war der in Irland lebende eng­lische Gutsverwalter Charles Cunningham Boycott, der seine Pächter ausbeutete. Daraufhin wurde er wirtschaftlich und gesellschaftlich gemieden und zum Verlassen des Landes gezwun­gen. »Das Phänomen, jemanden zu bestrafen, indem man ihn persönlich oder ökonomisch mei­det, gab es jedoch schon länger«, sagt Gerth.

Die ersten Boykotte, die er untersucht, gehen von der Sozialdemo­kra­tischen Partei Deutsch­lands (SPD) aus. Die Arbeiterbewegung wurde auch nach Ende des Sozialistengesetzes, das bis 1890 galt, erheb­lich behindert. So war es schwierig, Veranstaltungsorte für die Partei zu bekommen. Daher begann man bei Widerstand von Wirtsleuten, Lokale freizupressen. »Wenn Wirte sich weigerten, ihren Saal für eine SPD-Veranstaltung zur Verfügung zu stellen, hieß es, dann geht hier kein Arbeiter mehr etwas trinken.«

Auch bei der Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen kam das Druck­mittel Boykott zum Ein­satz, wie das Beispiel des Bierboykotts zeigt. Während im ausgehenden Kaiserreich der Arbeits­kampf das vorherrschende Thema war, traten in der Weimarer Zeit verstärkt antisemitische Boy­kotte auf. Völkische Bewegungen riefen dazu auf, jüdische Geschäfte und Gewerbetreibende zu meiden. Im Kampf gegen die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 durch französische und belgische Truppen gab es Versuche, französische Produkte zu boykottieren.

»Ich glaube, alle haben sich gefreut, als es vorbei war.
Aber es hat auch das Druckmittel Boykott populär gemacht.«


Im Nachkriegsdeutschland gab es antikommunistische und antinationalsozialistische Boykotte. »Zum Beispiel wurde versucht, linken Zeitschriften die Anzeigen abzugraben«, so Gerth. Einen nachhaltigen Erfolg hatte Erich Lüth. Der damalige Leiter der staatlichen Pressestelle der Stadt Hamburg rief 1950 zum Boykott gegen einen Film des Regisseurs Veit Harlan auf, der mit sei­nem Film »Jud Süß« die NS-Propaganda unterstützt hatte. Die Filmproduzenten wehrten sich und Lüth wurde zum Schweigen verdonnert. Dagegen ging dieser juristisch vor. Letztlich stellte das Bundesverfassungsgericht 1958 in einem Grundsatzurteil fest, dass der Aufruf zu einem Boykott eine zulässige Ausübung der Meinungsfreiheit sein kann. Dem Lüth-Urteil folgten weitere Aktionen. Gerth: »In den 1960er und 1970er Jahren wird es ein normales Mittel im Kampf ver­schiedener Bewegungen, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung oder der Anti-Apart­heid-Bewegung.«

Einer der erfolgreichsten Boykottaufrufe war der gegen den Ölkonzern Shell 1995. Auslöser war die geplante Versenkung des Rohöl-Zwischenlagers Brent Spar im Atlantik. Greenpeace kaperte die Ölplattform und protestierte damit gegen die Versenkung. Unterstützung dafür gab es aus allen Richtungen, unter anderem auch von der damaligen Umweltministerin Angela Merkel und dem FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle. Die Tankstellen von Shell wurden in großem Umfang boykottiert. Letztlich lenkte der Ölkonzern ein und entsorgte die Brent Spar an Land.

Trotz dieser Erfolgsstory ist für den Historiker Gerth die Brent-Spar-Sache grundsätzlich anders »gestrickt« als die Boykotte früherer Jahrzehnte. »Meine These ist, dass sich das ein bisschen verselbstständigt hat. Und spätestens in den 1990ern eine Individualisierung der Moral in Kon­sumfragen stattfand. Die Beteiligung am Boykott wurde eher zu einer privaten Entscheidung.« Über einen Mangel an Boykottaufrufen kann sich der Historiker allerdings nicht beklagen. Im Internet kursieren Listen mit über 50 Unternehmen, Waren und Nationen, die aus den ver­schiedensten Gründen boykottiert werden sollen, von Adidas über Coca Cola und Escada bis Unilever.

Kerstin Nees
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